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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Neufranzösische Periode 1725-50)

ihm abhängigen Verhältnisse geben die mit scharfem Urteil und verbissenem Groll geschriebenen Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint Simon (1675-1755), die an Energie und Farbenreichtum des Ausdrucks unvergleichlich sind. Auch auf rein litterar. Gebiete schien nicht alles über den Zweifel erhaben. Ch. Perrault griff die Autorität der Alten an ("Parallèle des anciens et des modernes", 1688-98), was den Groll Boileaus erregte, der hierdurch die Stützen des franz. Klassicismus erschüttert glaubte, mit Unrecht, denn der letztere bedurfte der Alten nicht; eher konnte sich Perrault aus dem franz. Klassicismus die Waffen für seine Angriffe holen. Später wieder aufgenommen wurde der Kampf der Alten und Neuen gegen Madame Dacier von Fontenelle und La Motte (1672-1731), der sogar den Vers für unnötig und die dramat. Einheitsregeln für überflüssig erklärte. Doch blieb die Herrschaft des klassischen Geschmacks vorläufig bestehen. Auch der große Erfolg der jetzt von Perrault ("Contes de ma mère l'Oye", 1697) in die Litteratur eingeführten Märchendichtung kann als ein Anzeichen der Auflehnung gegen die phantasielose Nüchternheit des Klassicismus aufgefaßt werden. Auf Perraults Märchen folgen "Tausendundeine Nacht" in Gallands Übersetzung (1704-8) und die "Contes des fées" (1698) der Gräfin d'Aulnoy. (Vgl. Delaporte, Du merveilleux dans la littérature française, Par. 1891.) Folgenschwerer sind die wider die in der herrschenden Kirche und Glaubenslehre begründete Weltanschauung offen und versteckt erhobenen Angriffe, welche teils aus dem aufblühenden Studium der Naturwissenschaften, teils aus Lockes Philosophie, teils aus der Skepsis histor. Kritik hervorgehen, und die in den Schriften Saint Evremonds (1613-1703), Fontenelles (1657-1757), Leclercs und Bayles (1647-1706; "Dictionnaire historique et critique", 1695) zum Ausdruck kommen. Auf kirchlichem Gebiet war allerdings der Jansenismus unterdrückt worden, aber nicht ausgetilgt, der Quietismus der Frau Lamothe-Guyon war durch Bossuet besiegt und Fénelon als Beförderer dieser Richtung vom Hofe verdrängt worden, aber letzterer wagte es doch in seinem Lehrroman "Télémaque" (1699) das herrschende polit. System unter erdichteter Verhüllung zu tadeln, während ein anderer Geistlicher, Massillon (1663-1742), unter der Regentschaft dem Knaben Ludwig XV. in seinen Predigten die Nachteile des Absolutismus darlegte. Ohne höhern Schwung, mit bewußter Unbefangenheit und ohne lehrhafte Absicht schilderte dagegen Lesage (1668-1747) in seinem "Diable boiteux" (1707), im "Gil Blas" (1715-35) und andern auf span. Gebieten handelnden Romanen die gesellschaftlichen und litterar. Zustände seines Zeitalters, während Montesquieu in seinen "Lettres persanes" (1721) sich der Romanform bediente, um mit feinem Spott alle Einrichtungen und Gebräuche des öffentlichen und bürgerlichen Lebens zu streifen.

Weniger berührt von dem kritischen Zuge der Zeit blieb die lyrische und dramat. Poesie. J. B. Rousseau (1670-1741) war allerdings auch Satiriker, aber sein Dichterruhm beruht vornehmlich auf seinen klassischen Oden, Kantaten, Psalmen im Stil der "großen Poesie". Aber La Grange-Chancel eiferte in seinen "Philippiques" in starken Versen gegen den Regenten. Das Trauerspiel blieb in hohem Ansehen und wurde im Stile des klassischen Zeitalters von La Fosse, La Grange, Crébillon, La Motte u. a. auf anständiger Höhe erhalten. Im höhern Lustspiel war Regnard ein begabter Nachfolger Molières, während Dancourt mehr als Vertreter der niedern Komödie gelten kann. Die beste Sittenkomödie des Zeitalters ist "Turcaret" von Lesage (1709), eine gegen die Generalpächter gerichtete Satire. Die volkstümliche Bühne des "Théâtre italien", für welche Dufresny und auch Regnard arbeiteten, wurde auf Befehl der Maintenon geschlossen; unter der Regentschaft gelangten die Jahrmarktsbühnen ("Théâtre de la foire") besonders durch die Thätigkeit von Lesage, Fuzelier u. a. zu großer Beliebtheit und gaben dem Singspiel ("Vaudeville") das Leben.

6) Die Zeit Ludwigs XV. bis zur Mitte des 18. Jahrh. (ungefähr 1725-50). Der polemisch-satir. Charakter, der schon während der letzten Jahrzehnte der Regierung Ludwigs XIV. in den kritischen Abhandlungen und populären Aufsätzen Bayles, Saint Evremonds, Fontenelles u. a. sich darthut, tritt jetzt immer ausgesprochener hervor; nicht allein in Prosaschriften, sondern selbst in der Dichtung, die indessen an den vom Klassicismus geschaffenen Darstellungsformen festhält. Auf allen Gebieten litterar. Thätigkeit macht sich der Einfluß der in England während des letzten Menschenalters ausgebildeten Lehren und Gedanken bemerkbar; engl. Denker und Dichter, Philosophen und Naturforscher, Deisten, Moralisten und Publizisten wirken nicht allein durch ihre Schriften umgestaltend auf die religiösen, philos., polit. Anschauungen der bedeutendsteiln franz. Autoren, sondern einzelne Franzosen, wie Montesquieu, Prévost, Destouches, Voltaire kommen selbst nach England und bringen von hier eine Fülle persönlicher Anregungen nach Frankreich zurück. Eine praktische Tendenz beginnt die Litteratur zu beherrschen, der ästhetische Rationalismus des klassischen Zeitalters wird zu einem philos.-praktischen Rationalismus, der mit den Waffen der Vernunft Aberglauben und Vorurteile bekämpft, zu bessern, zu belehren und aufzuklären trachtet. Philos., polit., religiöse Gegenstände werden in Unterhaltungsschriften oder wenigstens in einer allen Gebildeten zugänglichen Form ohne Rücksicht auf überlieferte Autorität behandelt, und sogar in der Poesie tritt die Absicht ästhetischer Wirkung gegen die Aufnahme kritischer und lehrhafter Zwecke zurück. Der praktische Gesichtspunkt herrscht selbst bei den Kunstlehren eines Dubos und Batteur vor.

In seinem histor. Epos ("Henriade", 1723) kämpft Voltaire (1694-1778), in der Komposition und Darstellung die Vorschriften des Klassicismus treu befolgend, für Duldung und bürgerliche Freiheit; in seinen Lehrgedichten ("Discours sur l'homme", 1738) verkündet er wie Pope den Deismus, während L. Racine den positiven Glauben mit den Gründen Pascals ("La religion", 1742) verteidigt. Harmlos und frei von Tendenz ist das scherzhafte Epos Gressets ("Vert-Vert", 1733), während Voltaires "Pucelle" ebenso tendenziös kirchen- und glaubensfeindlich wie schmutzig und frech ist. Die Tragödie, in ihrer seit Racine feststehenden, in sich abgeschlossenen Form tritt in den Werken Voltaires ("Oedipe", 1718, "Brutus", 1730, "Zaïre", 1732, "Mahomet", 1741) auch in den Dienst der religiösen und moralischen Aufklärung, oder sie ist bestrebt, durch Darstellung bedrängter Tugend ("Ines" von La Motte, "Zaïre" von Voltaire) tugendsame Gemüter zu Thränen zu rühren. Lebhafter mußte der Zeitgeist einwirken auf das Lustspiel, das ja stets in enger