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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Gerichtliche Polizei; Gerichtliche Psychologie

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Gerichtliche Polizei – Gerichtliche Psychologie

gerichtlicher Sachverständiger zu fungieren, geht nicht immer parallel der sonstigen Tüchtigkeit des Sachverständigen in seinem Fache. Deshalb eignet sich nicht jeder Arzt auch zum Gerichtsarzt. Die Deutsche Strafprozeßordn. §. 87 hat vorgeschrieben, daß jede im gerichtlichen Verfahren angeordnete Leichenöffnung im Beisein des Richters von zwei Ärzten vorzunehmen ist, unter denen sich ein Gerichtsarzt befinden muß. Diejenigen Gegenstände, welche der gerichtsärztlichen Untersuchung am häufigsten vorliegen, sind Verletzungen hinsichtlich der Art ihres Zustandekommens und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Gesundheit und das Leben des Verletzten, Vergiftungen, zweifelhafte Seelenzustände. (S. Gerichtliche Psychologie.) Ferner sind es die Fragen, auf welche Weise jemand ums Leben gekommen, ob ein neugeborenes Kind gelebt oder wenigstens die Fähigkeit zu leben gehabt, ob eine Frau schwanger sei, ob sie geboren habe u. dgl. Die Ergebnisse seiner Untersuchung hat der Gerichtsarzt dem Richter zunächst schriftlich in einer solchen Weise darzulegen, daß letzterer dadurch in den Stand gesetzt wird, sich über die rechtliche Bedeutung des vom Arzt untersuchten Gegenstandes selbst ein Urteil zu bilden. Jene Darlegung nennt man das gerichtsärztliche Gutachten (Visum repertum), welches in der mündlichen Verhandlung zu vertreten und zu entwickeln ist. Dasselbe hat übrigens angesichts der freien richterlichen Beweiswürdigung keine aus dem Amt des Gerichtsarztes abzuleitende formelle Autorität. Für den Richter und für die Geschworenen entscheidet allein die Zuverlässigkeit, welche sie der Person und den Gründen des Sachverständigen beimessen. Die Ausführungen eines Arztes, welcher kein Amt inne hat, können im einzelnen Falle hierfür überzeugender sein als die eines Gerichtsarztes oder eines Medizinalkollegiums.

Geschichtliches. Die ersten gesetzlichen Bestimmungen über Zuziehung von Ärzten zur Ermittelung des Thatbestandes bei Tötungen, Verletzungen u. s. w. finden sich in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls Ⅴ. von 1539. Bald darauf veröffentlichte in Frankreich Ambr. Paré eine Anweisung zur Abfassung ärztlicher Gutachten. Mit Beginn des 17. Jahrh. fingen ital. Arzte an, sich als Schriftsteller mit den Gegenständen der G. M. zu beschäftigen; von ihnen stammen die ältesten Lehrbücher dieser Wissenschaft. In Deutschland wendete man ihr erst gegen Ende des 17. Jahrh. mehr Aufmerksamkeit zu. Allein bald kam es infolge der eigentümlichen Entwicklung, welche die Rechtspflege in Deutschland nahm, zu heftigen Konflikten zwischen Gerichtsärzten und Rechtsverständigen, sodaß einige der letztern in der ersten Hälfte des 18. Jahrh. die Zuziehung mediz. Sachverständiger zu rechtlichen Untersuchungen geradezu für überflüssig und störend erklärten. Die vielfachen Bereicherungen, welche die Naturwissenschaften im 19. Jahrh. erfuhren, und die Umwälzung, die mit dem Auftreten Paul Joh. Anselm Feuerbachs (s. d.) in der Strafgesetzgebung eintrat, waren für die Entwicklung der G. M. vom größten Einflusse. In Deutschland haben sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. namentlich Henke, Mende, Casper und Liman, in Frankreich Marc, Orfila und Tardieu, in England Christison um die G. M. große Verdienste erworben.

Litteratur. Schürmayer, Lehrbuch der G. M. (4. Aufl., Stuttg. 1874); Casper-Liman, Handbuch der G. M. (2 Bde., 8. Aufl., Berl. 1889); Maschka, Handbuch der G. M. (4 Bde., Tüb. 1881‒82); Hofmann, Lehrbuch der G. M. (6. Aufl., Wien 1893); von Krafft-Ebing, Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem Civilrichter (Erlangen 1873); ders., Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie (3. Aufl., Stuttg. 1892); Eulenbergs Vierteljahrsschrift für G. M. (Berl., seit 1852).

Gerichtliche Polizei, s. Polizei.

Gerichtliche Psychologie oder forensische Psychologie, die Lehre von den krankhaften Seelenzuständen mit Rücksicht auf die Rechtspflege, daher richtiger gerichtliche Psychopathologie genannt, gipfelt in ihrer gegenwärtigen Gestalt hauptsächlich in den Fragen nach den geistig-leiblichen Bedingungen, welche 1) die rechtliche Verantwortlichkeit für strafbare Handlungen (Zurechnungsfähigkeit) und 2) die Fähigkeit, seine bürgerlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen (Dispositionsfähigkeit) beschränken oder aufheben. Die G. P. ist demnach eine durchaus auf praktische Gesichtspunkte gegründete und nur mit Rücksicht hierauf abgrenzbare Disciplin, die in das Gebiet teils der Rechtswissenschaft, teils der Medizin hineinreicht. Aufgabe der erstern ist es, die Begriffe der Zurechnungs- und Dispositionsfähigkeit mit Rücksicht auf die psychol. Voraussetzungen zu definieren, Aufgabe der Medizin, festzustellen, inwiefern diese Voraussetzungen durch krankhafte Zustände von Geist und Körper vernichtet werden. Insofern hierbei seitens der Medizin im wesentlichen die Grundsätze und Erfahrungen in Anwendung kommen, welche die Psychiatrie bezüglich der Beurteilung zweifelhafter, bez. krankhafter Seelenzustände aufgestellt hat, kommt der medizinischen G. P. nur in sehr beschränktem Umfang ein selbständiger Inhalt zu. – Die G. P. zerfällt, dem praktischen Bedürfnis entsprechend, in zwei Teile, einen strafrechtlichen (Kriminalpsychologie) und civilrechtlichen.

A. Kriminalpsychologie. Die Rechtswissenschaft geht bei Definition der kriminellen Zurechnungsfähigkeit von dem Grundsatz aus, daß jeder geistesgesunde Mensch, sofern er ein gewisses Alter (in Deutschland das vollendete 18. Lebensjahr) erreicht, im stande ist, Erlaubtes und Unerlaubtes (Strafbares) zu unterscheiden (Unterscheidungsvermögen, libertas judicii) und sich angesichts eines in ihm aufsteigenden, auf eine gewisse Handlung gerichteten Gedankens je nach dem bezüglich der Strafbarkeit getroffenen Urteil für Begehung oder Unterlassung dieser Handlung zu entscheiden (Willensfreiheit, Wahlfreiheit, libertas consilii). Zweifellos sind jedem normalen Durchschnittsmenschen diese Fähigkeiten bis zu einem gewissen mit der allgemeinen Volksbildung wechselnden Grade zuzuschreiben, welch letzterer auf empirischer Basis, keineswegs aber auf Grund psychol., bez. metaphysischer Theorien feststellbar ist. Insofern die psychol. Voraussetzungen der Zurechnungsfähigkeit nicht plötzlich auf einer gewissen Altersstufe in die Wirklichkeit treten, erscheint es notwendig, zwischen der vollen strafrechtlichen Reife und der notorischen Unreife (Kindesalter) eine Altersklasse zu unterscheiden, der weder die erstere, noch die letztere unzweifelhaft zukommt (Alter der zweifelhaften strafrechtlichen Reife, in Deutschland vom vollendeten 12. bis 18. Lebensjahre) und wo im konkreten Einzelfalle die psychol. Voraussetzungen der Zurechnungsfähigkeit auf ihr Vorhandensein zu prüfen sind. Im übrigen unterscheidet man