Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Diese Seite ist noch nicht korrigiert worden und enthält Fehler.

914
Geschütz
einer Änderung der Richteinrichtungen am Rohr,
man legte die Visierlinie vielfach an eine Seite des
Rohrs und verkürzte dieselbe, indem man das Korn
in der Höhe der Schildzapfen anbrachte. Man
wandte anfänglich nnr folche gezogene G. an, die
die Eigenschaften der langen Kanonen trugen, nnd
glaubte, da die Anwendung der Hohlgcschosse ge-
sichert war, mit einer Geschützart um fo mehr aus-
kommen zu können, als die glatten Mörfer auch
weiterhin ihrer Aufgabe hinreichend gewachsen er-
schienen. Doch trat späterhin das Bedürfnis ver-
kürzter Kanonen für den indirekten Schuß gebiete-
risch hervor, und auch des Vcrtikalfcuers aus gezoge-
nen G. glaubte man nicht dauernd entratcn zu kön-
nen. So entstand in Preußen bereits 1869 eine
kurze 15 cm-Kanone und bald darauf ein 21 cm-
Mörser. (S. Ta fel: G e s ch ü tz e 11, Fig. l und di e
Textfiguren 18, die das kurze 15 cm - Roh r, und 19,
Fig. 19.
die das 21 cm-Mörserrohr im Längendurchschnitt
darstellt.) Für die Mörser behielt man die äußern
Anordnungen der Kanonen bei. In den Kalibern
hielt man sich zunächst an die der glatten G. Als
leichtes Feldgeschütz ward fast überall die 8 cm-,
als schweres die 9- oder 10 cm-, auch wohl die
12 cm-Kanone angenommen. Im System der Be-
lagerungs- und Festungsartillerie wählte man 12-
und 15 cm-Kanonen, letztere als lange und kurze,
und 21 cm-Mörser. England nahm für die Feld-
geschütze als Einheitskaliber das von 7,55 cm an,
indes für die reitende Artillerie mit erleichterten:
Rohr und Geschoß. Der beibehaltenen Gewohnheit
gemäß, die G. nach dem wirklichen Gewicht der
Granaten, nicht, wie es in den meisten Staaten
noch längere Zeit beliebt wurde, nach dem Kugel
gewicht des entsprechenden glatten G. zu bezeichnen,
statt wie später in Zentimeter, hatte man sonach in
der engl. Feldbatterie 9- und 12pfündige G. Die
Velagerungsartillerie nahm 20-, 40- und lOOpfün-
dige (9,12 und 17 cm-) Kanonen an.
Das franzöfifche Gefchützsystem fand in
Italien, den Niederlanden, den fkandinav. Staaten,
auf der Iberischen Halbinsel, in Griechenland, Ser-
bien, knrze Zeit hindurch auch in Rußland Beifall,
mehrere kleinere deutsche Staaten gefielen sich darin,
das franz. System neben dem preußischen anzuwen-
den. Frankreich selbst nahm für seine Marine die
Hinterladung, aber mit Beibehalt der Spielraum-
führung, an. Das in Österreich für die Feld-
artillerie angenommene Vorderladungsgeschütz fand
keine weitere Nachahmung. Die Schweiz nahm
anfänglich einen Vorderlader mit Expansionsgeschos-
sen (s. Geschoß, Fig. 21) an, wandte sich dann aber
dem preuß. System zu, auch Rußland ging bald zu
letzterm über. Nordamerika wählte im System Par-
rot den Vorderlader mit Expansionsgeschossen.
Eine wesentliche Schwäche aller bisher erwähn-
ten Konstruktionen gezogener G. lag in der zu engen
Begrenzung des Ladungsverhältnisses, durch die
keine solchen Geschoßgeschwindigkeiten erreicht wur-
den, wie man sie bei den langen glatten Kanonen ge-
wohnt gewesen war. Dies hatte seine Hauptursache
in der weitern Verwendung des bereits bei glatten
G. üblich gewesenen und der Natur dieser völlig an-
gemessenen brisanten Geschützpulvers, das bei dem
großen Widerstand, den das gezogene Rohr, nament-
lich der Hinterlader, dem Geschoß bei seiner Be-
wegung in demselben entgegen-
stellt, ohne Gefahr für Rohr,
Geschoß und Regelmäßigkeit der
Geschohbewegung auf einen viel
geringern Bruchteil des Geschoß-
gewichts herabgefetzt bleiben
mußte, als es bei glatten G.
zulässig gewesen war. Die Fort-
bildung der gezogenen G. im
Sinne gesteigerter Geschoßge-
schwindigkeiten war eine Frage
des Pulvers wie des Materials.
Es handelte sich darum, den
relativen Druck der Gase des
erstern auf 'die Rohrwände zu
ermäßigen, ihre Einwirkung
auf das Geschoß zu einer von
vornherein weniger heftigen,
dafür aber zu einer um so nach-
haltiger wirkenden zu gestalten,
welcke Aufgabe in Gestalt der
langsam verbrennenden Pnlverarten (s. Schießpul-
ver) glücklich gelöst wurde. Für die Herstellung eines
den Anstrengungen gewachsenen Rohrs reichten
weder Bronze, noch Gußeisen in ihrem bisherigen
Herstellungsverfahren, noch auch das bereits zu
vielfacher Anwendung gekommene stählerne massive
Rohr aus. Der Rohrkörper mußte so aufgebaut
werden, daß nicht bloß die der Seele zunächst lie-
genden, sondern auch die weiter nach außen befind-
lichen Schichten an dem Widerstand gegen die aus-
dehnende Gewalt der Pulvergase teilnahmen, was
durch die von innen nach außen wachsende Span-
nung der einzelnen Rohrschichten, namentlich bei
den Stahlrohren, in hohem Maße erreicht wurde.
Man spricht in diesem Falle von einer künstlichen
Metallkonstruktion <s.d.). Im weitern mußten
mehr als bisher die Konstruktion des Verschlusses, die
innere Einrichtung des Rohrs und die Führungsweise
des Geschosses den Verhältnissen angepaßt werden.
Den wesentlichsten Anstoß zu dieser Umgestal-
tung gab die Panzerfrage (f. Panzer), die mit dem
7. Jahrzehnt des 19. Jahrh, zunächst in Nordame-
rika und England auf die Tagesordnung gelangte.
Die Nordamerikancr, besonders der Artilleriemajor
Rodman, gedachten durch das glatte Geschütz
unter außerordentlicher Steigerung des Kalibers
und Anwendung großer Ladungen grobkörnigen
Pulvers schwere Eisenmassen mehr erschütternd als
durchbohrend auf den Panzer wirken zu lassen.
Rodman stellte seine Geschützrohre aus Gußeisen