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Müsen – Musenalmanache
ruft nur eine Muse an (Musa, d. i. die Sinnende), die Geberin des Gesangs und Kennerin alles dessen, was über Götter, Weltgeheimnisse und Heroenvorzeit der Mensch zu wissen und der Rhapsode zu berichten wünscht. Andererseits begegnet man an vielen Orten einer Dreizahl gewöhnlich mit Apollon verbundener Göttinnen, welche oft mit den Chariten oder mit den Quellnymphen verwechselt wurden. Die Hauptsitze dieser M. befanden sich in den böotischen Städten Askra und Thespiä am Helikon in Verbindung mit alten Propheten- und Sängerschulen, eine Verbindung, die auch an dem noch wenig erforschten Musensitze Pieriens, am Nordfuße des Olymp, bestanden haben muß. Frühzeitig wurden die M. zu einem Chor von neun erweitert. Ihre Namen blieben seit Hesiod folgendermaßen fixiert: Kalliope, nach Hesiod die Vornehmste des ganzen Kreises, Kleio oder Klio (Clio), Euterpe, Thaleia oder Thalia, Melpomene, Terpsichore, Erato, Polyhymnia, Urania. Als ihre Eltern bezeichnete der Mythus Mnemosyne (s. d.) und Zeus. Ihre Bedeutung ist während des größten Teils des griech. Altertums auf Dichtung, Gesang und Reigentanz beschränkt geblieben. Eine genauere Unterscheidung der einzelnen M. versuchte erst die gelehrte Epoche der Alexandriner. Die einzelnen Figuren der in dieser Zeit geschaffenen Darstellungen bestimmt zu benennen, ist bei dem Mangel an Inschriften unmöglich, während die kurzen Beschreibungen und die mit Inschriften versehenen Mosaiken röm. Zeit in den Benennungen schwanken. Feststehend ist in der röm. Kaiserzeit höchstens Klio als Muse der Geschichte mit einer Schriftrolle, Kalliope als Muse der heroischen (epischen und ernstlyrischen) Dichtung mit Schreibtafel oder Schriftrolle, Melpomene als Muse der Tragödie mit ernster Maske, auch Keule (nicht der Keule des Herakles, wie gewöhnlich gesagt wird, sondern dem Attribut der Moira, Dike und Ananke), Thalia als Muse der Komödie mit komischer Maske, Urania als Muse der Astronomie, Terpsichore und Erato mit Saiteninstrument als M. der Lyrik leichtern Schlags, Euterpe mit den Flöten scheint der Instrumentalmusik vorzustehen, Polyhymnia scheint die attributlose Muse zu sein, welche mit ins Gewand gehüllten Armen dargestellt wird und auf den Reliefs eine leichte Tanzbewegung ausführt. Zwischen ihr und Terpsichore, ja noch einer dritten (Melpomene) schwankt die Zuteilung des Tanzes. Zu einer wirklich genauen Unterscheidung der M. ist also das Altertum eigentlich nie gelangt. In der künstlerischen Ausbildung der Musentypen kann eine Centralstätte, wie der delphische Apollotempel, in dessen einem Giebelfelde Apollon und die M. dargestellt waren, nicht ohne Einfluß geblieben sein, ebensowenig die zum größern Teil von Kephisodotos, Praxiteles’ Vater, geschaffenen Gruppen am Helikon. Doch haben neuere Funde in Mantinea gezeigt, welche Verdienste auch Praxiteles auf diesem Gebiet hatte; dort wurden von den drei Tempelstatuen der Leto, des Apollon und der Artemis, deren beide letztere von Praxiteles herrührten, die Postamentreliefs wieder entdeckt, auf einem Wettstreit Apollons mit Marsyas, auf den zwei andern je drei M., von denen die zwei vorletzten geschwisterliche Ähnlichkeit mit dem Hermes des Praxiteles zeigen; mindestens die Anlage der Musenfiguren rührt von Praxiteles her, oder sie sind nach seinen sog. Thespiaden (Plin. 36, 39) kopiert. – Vgl. Deiters,
Über die Verehrung der M. bei den Griechen (Bonn 1868); Krause, Die M., Grazien, Horen und Nymphen (Halle 1871); Rödiger, Die M. (Lpz. 1875); Trendelenburg, Der Musenchor (Berl. 1876); O. Bie, Die M. in der antiken Kunst (ebd. 1887); Bulletin de correspondance hellénique (Taf. 1‒3, Athen 1888); Overbeck in den «Berichten der Sächsischen Gesellschaft» (1888); W. Mayer in den «Mitteilungen des kaiserl. Deutschen archäol. Instituts», athenische Abteilung, Bd. 17 (Athen 1892).
Müsen, Dorf im Kreis Siegen des preuß. Reg.-Bez. Arnsberg, hatte 1890: 1352, 1895: 1290 E., darunter 34 Katholiken, Post, Telegraph, evang. Pfarrkirche; eine Eisen-, Silber-, Blei- und Kupferhütte sowie Bergbau auf Silber-, Blei-, Zinkerze und Spateisenstein, besonders im Stahlberg, der seit 1313 abgebaut wird.
Musena, Pflanze, s. Massena.
Musenalmanache, periodische Gedichtsammlungen, die mit dem Aufblühen der neuern deutschen Poesie im 18. Jahrh. entstanden. Die gleichzeitig (1770) gegründeten Göttinger und Leipziger M. nahmen sich den seit 1765 in Paris herauskommenden «Almanac des muses» zum Muster und spalteten sich beide 1776 zu je zweien. Der Göttinger, von Boie und Gotter ins Leben gerufen, wurde, nachdem Gotter Göttingen verlassen hatte, von Boie allein bis 1775, dann bis 1778 von Göckingk, 1779‒94 von Bürger und 1795‒1804 von K. Reinhard fortgesetzt. In seinen frühern Jahrgängen veröffentlichten die Mitglieder des Göttinger Dichterbundes oder des Hains ihre neuesten Poesien. Als Rivale des Göttinger Musenalmanachs erschien seit 1776 der sog. «Hamburgische Musenalmanach», den zuerst J. H. Voß allein, 1780‒88 gemeinschaftlich mit Göckingk, 1789‒1800 wieder allein herausgab. Dem in Leipzig erscheinenden «Almanach der deutschen Musen», den 1770‒81 Chr. H. Schmid herausgab, trat seit 1776 der «Leipziger Musenalmanach» an die Seite. Von 1777 bis 1796 erschien auch ein «Wienerischer Musenalmanach», an dessen Herausgabe besonders J. F. Ratschky, M. I. Prandstetter, J. Richter, Blumauer und G. Leon beteiligt waren. Berühmter wurde der von Schiller herausgegebene Musenalmanach (1796‒1801); besonderes Aufsehen machten namentlich die im Jahrgange für 1797 veröffentlichten «Genien» Goethes und Schillers. Später entstanden die M. von A. W. Schlegel und Tieck (Tüb. 1802), von Vermehren (Lpz. 1802 und Jena 1803), von Chamisso und Varnhagen (1804‒6; einen Neudruck des letzten Jahrgangs besorgte L. Geiger in den «Berliner Neudrucken», Berl. 1889), das «Poet. Taschenbuch» von Fr. Schlegel (ebd. 1805‒6), der «Musenalmanach» von Leo von Seckendorf (Regensb. 1807‒8) u. a. Indessen wurden die M. durch die Taschenbücher (s. d.) verdrängt. Erst als diese Litteratur alles Metrische aus ihrem Kreise verbannte, trat das Bedürfnis nach Sammlungen, die das beste Neue aus dem Gebiete der lyrischen und der lyrisch-epischen Poesie in Auswahl mitteilten, abermals hervor. So erschienen 1830 zwei M. nebeneinander; der eine von Wendt, seit 1833 als «Deutscher Musenalmanach» (Lpz. 1830‒39) von Chamisso und G. Schwab übernommen, bestand zehn Jahre, der andere, der «Berliner Musenalmanach», von Veit, erlebte nur zwei Jahrgänge. Neuere M. sind der «Deutsche Musenalmanach» (Lpz. 1840), die M. von Echtermeyer und Ruge (Berl. 1840‒41), Schad (9 Jahrg., Nürnberg, dann Würzb. 1850‒59) und Gruppe (5 Jahrg., Berl. 1851‒55) und neuerdings der «Cottasche Musenalmanach», hg. von