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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rationalist - Ratramnus

allgemeine Vernunftreligion mit rein moralischen Wahrheiten ersetzen oder doch nur so weit gelten lassen wollte, als sie mit letzterer übereinstimme. Im Unterschied von diesem Naturalismus schlug nun der R. einen Mittelweg ein, indem er formell den Supranaturalisten, materiell den Naturalisten beipflichtete. Indem er die Vorstellung einer übernatürlichen Offenbarung, d. h. nach damals allgemein bestehender Voraussetzung einer übernatürlichen Belehrung der Menschen durch Gott, kritisch untersuchte, kam er zu dem Ergebnis, daß die Möglichkeit derselben nicht zu bestreiten sei, die Anerkennung ihrer Wirklichkeit aber von einer Prüfung ihres Inhalts abhänge. Ob etwas übernatürlich offenbart sei oder nicht, könne nur die Vernunft entscheiden, mit welcher die Offenbarung nicht im Widerspruch stehen könne. Die von den Supranaturalisten festgehaltene Annahme übervernünftiger Wahrheiten wurde verworfen, weil das Übervernünftige ein Widervernünftiges sei, und nur zugestanden, daß Gott durch übernatürliche Veranstaltung den Menschen Vernunftwahrheiten früher mitgeteilt haben könne, als sie, sich selbst überlassen, auf dieselben gekommen sein würden, oder etwa verloren gegangene Wahrheiten auf jenem außerordentlichen Wege für das menschliche Bewußtsein wieder aufgefrischt habe. Dennoch wollte auch der R. an der Autorität der Bibel festhalten und behauptete, sich im vollen Einverständnis mit ihrem wahren Sinn zu befinden. Da er aber ebenso wie der Naturalismus die Wunder als widernatürlich verwarf, so beseitigte er das Wunderbare aus den biblischen Erzählungen durch die sog. natürliche Auslegung, und deutete die dem Zeitalter fremd gewordenen religiösen Vorstellungen der Bibel entweder um oder schaffte sie durch die Annahme fort, daß die biblischen Schriftsteller sich nur aus pädagogischen Gründen den jüd. oder heidn. Zeitmeinungen anbequemt hätten. Auf diese Weise behielt man als wesentlichen Inhalt der Schrift nur die sog. vernünftigen Wahrheiten übrig, unter denen der gewöhnliche R. die drei höchsten «Vernunftideen» Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als notwendige Bedingungen alles moralischen Handelns begriff. Hiermit glaubte man zwischen Christentum und Vernunft Frieden gestiftet, die Autorität der Bibel gerettet und zugleich den berechtigten Forderungen des Naturalismus genügt zu haben.

Die Schwächen jenes R. sind leicht zu erkennen. Es war Verflüchtigung des religiösen Gehalts des Christentums, ihn einfach auf Morallehre zu reduzieren. Es ist auch verwirrend, die Vernunft als «religiöses Erkenntnisvermögen» zu bezeichnen, d. h. den religiösen Inhalt aus ihr ableiten zu wollen, da dieser nur aus der innern Erfahrung der Frommen entnommen werden kann. Auch die unhistor. Willkür der rationalistischen Behandlung der Bibel liegt gegenwärtig offen zu Tage und insbesondere die natürliche Auslegung der Wunder. Aber selbst vor einem schärfern philos. Denken konnte jener R. nicht bestehen. Denn was er als unwandelbare, zu allen Zeiten anerkannte Vernunftwahrheit betrachtet hatte, war mindestens in der Form, die dem R. über jeden Zweifel erhaben schien, selbst nur ein Niederschlag der damaligen Zeitbildung. Andere gegen den R. erhobene Anklagen, wie seine Nüchternheit und platte Verständigkeit, sein philos. und ästhetisches Unvermögen, seine äußerliche Moral mit ihrer Werkgerechtigkeit und Tugendseligkeit u. a. m., treffen nicht sowohl ihn selbst, als das ganze Zeitalter. Dagegen hat der R., indem er auf die innere Einheit aller menschlichen Erkenntnis drang, die unklare Lehre von übervernünftigen Wahrheiten siegreich bekämpft und gegenüber der blinden Unterwerfung unter äußere Autoritäten das unveräußerliche Recht des Subjekts, nichts für wahr anzunehmen, als was im eigenen Innern des Menschen seine Begründung findet, aufs nachdrücklichste geltend gemacht. Seine Forderung, alle Überlieferung, einschließlich der in der Bibel enthaltenen, auf ihren vernünftigen Gehalt hin zu prüfen, ist den dogmatischen Vorstellungen der Bibel und der Kirche gegenüber ebenso berechtigt als seine an die sog. übernatürlichen Thatsachen angelegte Kritik. Ganz besonders bedeutsam aber ist die durch den R. begonnene geschichtliche Forschung über die menschliche Entstehung der Bibel und ihre Behandlung nach denselben kritischen Grundsätzen, die für alle andern Litteraturprodukte gelten, gewesen. Als die namhaftesten Vertreter des R. sind die Dogmatiker Wegscheider und Bretschneider, der Exeget Paulus und der Kanzelredner Röhr zu nennen.

Vgl. Stäudlin, Geschichte des R. (Gött. 1826); Hase, Theol. Streitschriften (3 Hefte, Lpz. 1834‒37); Rückert, Der R. (ebd. 1859); Frank, Geschichte des R. und seiner Gegensätze (in der «Geschichte der prot. Theologie», Tl. 3, ebd. 1875).

Rationalíst, Anhänger des Rationalismus (s. d.).

Rationalität (lat.), vernunftgemäße Beschaffenheit.

Rationéll, der Ableitung nach nicht verschieden von rational (s. d.), wird in bestimmten Anwendungen bevorzugt; so heißt ein rationelles Verfahren (z. B. in der Heilkunde) ein auf gründliche, insbesondere wissenschaftliche Überlegung gegründetes praktisches Vorgehen.

Rationelle Formeln, s. Chemische Formeln.

Rationelle Malverfahren, s. Deutsche Gesellschaft zur Beförderung rationeller Malverfahren.

Ratisbōna, neulat. Name für Regensburg.

Ratītae, s. Straußvögel.

Ratkau, s. Ratekau.

Ratke, Wolfgang, s. Ratich.

Rátniki, die dem Opoltschenije (s. d.) angehörigen Wehrleute.

Ratramnus, auch Bertramus, Theolog des Mittelalters, Benediktinermönch im Kloster Corbie, geb. Anfang des 9. Jahrh., gest. nach 868. Sein Hauptwerk ist seine berühmte, im Auftrage Karls des Kahlen abgefaßte Schrift über das Abendmahl: «De corpore et sanguine Domini», worin er seinem Zeitgenossen Paschasius Radbertus (s. d.) und der von ihm verfochtenen Transsubstantiationslehre scharf entgegentrat und die Ansicht aufstellte, daß Leib und Blut Christi nur mystisch und figürlich im Abendmahl vorhanden seien. Die Schrift, im Mittelalter lange Zeit unbekannt, rief nach der Reformation, als sich besonders die Reformierten für ihre Abendmahlsanschauung darauf beriefen, eine ganze Litteratur hervor. Nicht minder berühmt sind des R. vier Bücher «Contra Graecorum opposita» worin er gegen Photius, den Patriarchen von Konstantinopel, die Abweichungen der abendländ. Kirche von der morgenländischen in Lehre und Kultus rechtfertigte. Im Prädestinationsstreite stellte er sich freimütig auf die Seite Gottschalks (s. d.). Eine Gesamtausgabe seiner Werke befindet sich in Mignes «Patrologie» (Bd. 121). – Vgl. Martin, R., une conception de la cène au Ⅸ<sup>e</sup> siècle (Toulouse 1891).