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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Staatsschulden

sätzliche Berechtigung des Staates an, den Staatskredit in Anspruch zu nehmen, sobald es sich um die Deckung der Kosten von privat- und staatswirtschaftlichen Kapitalanlagen (in Österreich Investitionsanleihen genannt, s. Investition) sowie um Beschaffung der Mittel für außerordentliche Lasten, wie Kriegskosten, Ablösung von Reallasten u. dgl. m., handelt, welche durch Steuern nicht aufgebracht werden können und nur durch Verteilung auf eine längere Zeit erträglich werden. Hierbei ist nur die eine Beschränkung zu machen, daß nicht der volkswirtschaftlichen Produktion durch die Inanspruchnahme des Staatskredits die für sie erforderlichen Kapitalien entzogen werden, daß vielmehr die Quelle der Staatsanleihen entweder, was am erwünschtesten ist, in den verfügbaren Kapitalien der heimischen Volkswirtschaft oder im Auslande gelegen sei. Bedenklich und für die Dauer unhaltbar erscheint dagegen die Finanzlage eines Staates, wenn derselbe gezwungen ist, zur Deckung der laufenden Verwaltungskosten mangels genügender ordentlicher Einnahmen Anleihen (s. d.) aufzunehmen. Diese aus Anleihen der bezeichneten Art herrührenden, für die Dauer berechneten und geordneten S. heißen fundierte S., auch konsolidierte S., namentlich wenn sie, wie dies jetzt meistens der Fall ist, in eine einheitliche Schuldengattung zusammengefaßt werden (s. Consols und Konsolidation). Die fundierten S. stehen im Gegensatz zu den schwebenden, flottierenden, fluktuierenden S., welche nur auf kurze Dauer berechnet sind (s. Flottierende Schuld).

Der Ausdruck fundierte Staatsschuld findet seine Erklärung darin, daß die ältere Finanzverwaltung, einerseits einem allgemeinen Grundsatze folgend, wonach für jedes selbständige Gebiet von Ausgaben eine specielle Quelle der Einnahmen bestimmt wurde (sog. Specialisierung der Fonds), andererseits im Interesse der Staatsgläubiger für jede neu begründete Staatsschuld behufs Sicherstellung der Verzinsung und Tilgung derselben eine besondere Einnahmequelle bestimmte, gewissermaßen jene auf diese fundierte (in Preußen auf die Domänen). Das in der modernen Finanzverwaltung herrschend gewordene Princip der Centralisation der Kassenfonds, nach welchem alle Einnahmen des Staates einen einheitlichen Fonds zur Deckung der Ausgaben bilden, hat auch zur Beseitigung specieller Fonds für die Staatsschuld geführt, mit Ausnahme jener Staaten, in welchen der gesunkene Staatskredit eine derartige Specialisierung gewisser Staatseinkünfte im Interesse der Staatsgläubiger notwendig macht, denen mitunter sogar selbständige Verwaltungsrechte an den betreffenden Einkommensquellen eingeräumt werden müssen; s. z. B. Osmanisches Reich (Finanzen).

Die Schuldverhältnisse der schwebenden Staatsschuld sind untereinander wieder mannigfach verschieden. Es gehören dahin: 1) das vom Staate ausgegebene Papiergeld (s. d.); 2) die kurzfristigen Anleihen der Kassenverwaltung zur Ausgleichung des Zeitunterschiedes der Ein- und Ausgange bei den Staatskassen innerhalb der einzelnen Finanzperioden, am häufigsten in Gestalt von Schatzanweisungen (s. d.); 3) die Kautionen und Depositen, welche in den verschiedenen Zweigen der staatlichen Geschäftsführung vorkommen; 4) die Zahlungsrückstände der staatlichen Kassen wegen Verzugs der Gläubiger.

Die Aufnahme nur von eigentlichen S. (von der Theorie im Gegensatz zu den laufenden Verwaltungsschulden als Finanz schulden bezeichnet) bedarf der Zustimmung der Volksvertretung.

Die konsolidierte Staatsschuld unterscheidet sich in die einlösliche, amortisable, und in die uneinlösliche Schuld, je nachdem die Staatsverwaltung den Gläubigern gegenüber die Verpflichtung auf Rückzahlung des Kapitals oder auf Zahlung einer fortlaufenden Rente (Rentenschuld) übernimmt. Die einlösliche Staatsschuld besteht ihrerseits wieder aus Schuldverschreibungen auf bestimmte Verfallzeit, oder aus Annuitäten (s. d.) oder Zeitrenten, event. Leibrenten (s. d.), bei welchen die Schuld innerhalb einer bestimmten Zeit ratenweise abgezahlt wird, und endlich aus Lotterie- oder Prämienschulden, bei welchen eine allmähliche Tilgung mit Prämienverlosung stattfindet (s. Prämienanleihen).

Unter den verschiedenen Arten der konsolidierten Staatsschuld nimmt in der Gegenwart die uneinlösbare Rentenschuld die erste Stelle ein. Sie gehört der jüngsten Entwicklung der Staatsschuld an und hat die Erkenntnis zur Voraussetzung, daß bei produktiver Verwendung der aufgenommenen Schuldkapitalien die Tilgung derselben mit wirtschaftlicher Berechtigung so lange unterbleiben kann, als jene Verwendung fortdauert. Ohne den Staat privatrechtlich zur Tilgung zu verpflichten, läßt die Rentenschuld dem Staat die Möglichkeit derselben, insofern Zeit und Umstände eine solche entsprechend erscheinen lassen, und ist daher regelmäßig den Schuldformen mit privatrechtlichen Tilgungsverbindlichkeiten vorzuziehen. Um sich die Einlöslichkeit der Rentenschuld zu erleichtern, thut der Staat am besten, sich einseitig das Kündigungsrecht vorzubehalten. In diesem Falle lautet die einzelne Rentenobligation auf einen bestimmten Nominalbetrag, gegen Zahlung dessen der Staat zur Einziehung der Obligation berechtigt erscheint. Bei vom Staat unkündbarer Rentenschuld vermag der Staat rechtlich die Tilgung nur im Wege freien Ankaufs vorzunehmen. Die kündbare Rentenschuld findet daher mit Recht die meiste Anwendung. Formell besteht die kündbare Rentenschuld entweder in besondern Obligationen über das Kapital selbst mit Zinscoupons, wie in Österreich, Rußland und noch vorwiegend in Deutschland, oder in Bescheinigungen über das Rentenbezugsrecht als Auszug "aus dem großen Buche der Staatsschuld", wie in Frankreich als titre nominatif oder als rente au porteur. (S. Einschreibesystem [Reichsschuldbuch, Staatsschuldbuch].) Solange die Form privatrechtlicher Tilgungspflicht die herrschende war, mußte natürlich fortwährend für Tilgungsmittel gesorgt werden. Die oben genannte frühere Fundierung der Schulden blieb fast überall (so insbesondere in England, Frankreich und Österreich) ohne Erfolg. Bei dem stetigen Wachsen der allgemeinen Staatsausgaben war man nicht in der Lage, die Tilgung aus den Überschüssen der ordentlichen Einnahmen vorzunehmen, mußte vielmehr neue Anleihen, oft zu ungünstigern Bedingungen als die zu tilgenden aufnehmen, oder neue Steuern ausschreiben, ohne darauf Rücksicht nehmen zu können, ob diese Besteuerung nicht eine größere Last bedeute als der Weiterbestand der Schuld. Bei der Rentenschuld dagegen kann die Regierung Zeit und Maß der Tilgung nach freiem Ermessen bestimmen und wird sie nur unter steter Rücksicht auf die Lage der Volkswirtschaft und der Staatsfinanzen vornehmen. Die Überzeugung, daß die Zukunft den Staatskredit