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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Unfallversicherung

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Unfallversicherung

leistenden Beiträgen, Einschätzung in höhere Gefahrenklassen (s. d.) sowie unter Umständen auch Geldstrafen festgesetzt (§§. 78‒81). Ähnliche Vorschriften enthalten auch die spätern Unfallversicherungsgesetze. Vgl. §§. 87 fg. des landwirtschaftlichen Unfallversicherungsgesetzes vom 5. Mai 1886, §§. 44 fg. des Bauunfallversicherungsgesetzes vom 11. Juli 1887, §§. 90 fg. des Seeunfallversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1887. (S. Arbeiterversicherung.) – Vgl. R. Platz, Die U. (hg. vom Verband der deutschen Berufsgenossenschaften, Berl. 1889 u. 1890); Wirschinger, Die Unfallverhütung in der Land- und Forstwirtschaft (Münch. 1894).

Unfallversicherung, die Versicherung gegen die nachteiligen Folgen von Unfällen, die den Körper eines Menschen betreffen, vor allem gegen den gänzlichen oder teilweisen Verlust der Erwerbsfähigkeit oder den Tod. Sie erscheint in zwei Arten: 1) als private, wenn eine Privatversicherungsanstalt die U. gegen eine nach dem Grade der Gefahr bemessene Prämienzahlung übernimmt; sie ist regelmäßig gleichzeitig Kranken-, Invaliditäts- und Lebensversicherung. Erst seit Anfang der 70er Jahre ist sie ein selbständiger Zweig des privaten Versicherungswesens, zuerst als Reiseunfallversicherung, die jetzt sehr gebräuchlich ist und namentlich durch Aufstellung von Automaten mit Versicherungsbillets auf Bahnhöfen und auch unmittelbar durch Ausgabe von mit U. verbundenen Fahrkarten geschieht, jetzt auch als allgemeine U., jedoch schließen die Versicherungsbedingungen eine Reihe von Unfällen aus. In Deutschland bestehen einige zwanzig private Unfallversicherungsanstalten, die aber fast alle noch andere Versicherungen pflegen. Da sie über ihr Unfallversicherungsgeschäft nur teilweise gesonderte Rechnung legen, ist die Statistik unvollständig. 2) als öffentliche, d. h. im öffentlichen (socialpolitischen) Interesse eingeführte Unfallfürsorge. Eine solche besteht nach dem Vorgang Deutschlands insbesondere für Arbeiter, nachdem sich die privatrechtlichen Haftpflichtgesetze in dieser Richtung als unzureichend erwiesen (Arbeiterunfallversicherung).

Ⅰ. Deutschland. Zwar bedeutete das Haftpflichtgesetz (s. d.) von 1871 einen Fortschritt gegenüber dem bis dahin ausschließlich geltenden engherzigen Gemeinen Recht. Allein es trug eher zu einer Verschärfung als zur Versöhnung der Gegensätze bei. Einmal ließ es gerade Unfälle, bei denen eine Verschuldung des Unternehmers und seiner Beamten nicht nachgewiesen werden konnte oder überhaupt nicht vorhanden war, unberücksichtigt. Es nötigte ferner in der Regel den armen, schneller Hilfe bedürfenden Verletzten oder dessen Hinterlassene erst zu langwieriger Prozeßführung, und blieb in der Wirkung immer unsicher, mochte nun der Geschädigte eine Rente erstritten haben, deren Fortdauer von der dauernden Zahlungsfähigkeit des Unternehmers abhing, oder mochte er sich mit Zahlung eines kleinen Kapitals zufrieden gegeben haben, das in unerfahrenen Händen schnell genug aufgebraucht zu werden pflegte.

Aus diesen Gründen setzt die neue Unfallversicherungsgesetzgebung an Stelle des civilrechtlichen Schadensersatzanspruchs die öffentlich-rechtliche Fürsorge, sorgt sicher, schnell und dauernd, bezieht sich gleichmäßig auf alle Betriebsunfälle, mögen sie der Schuld des Unternehmers und dessen Beamten, dem Zufall oder gar der Fahrlässigkeit des Verletzten zuzurechnen sein, und begreift die Kosten des Heilverfahrens oder der Beerdigung in sich. Die Grundregeln der gegenwärtigen Arbeiterunfallversicherung sind in dem (industriellen) Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 niedergelegt (seit 1. Okt. 1885 in Kraft). An dieses schlossen sich das Ausdehnungsgesetz vom 28. Mai 1885 (seit 1. Juli 1886 in Kraft), welches die U. auf das Transportgewerbe, Heer, Marine und die öffentlichen Verkehrsanstalten ausdehnte, das land- und forstwirtschaftliche Unfallversicherungsgesetz vom 5. Mai 1886, das Bauunfallversicherungsgesetz vom 11. Juli 1887 und das Seeunfallversicherungsgesetz vom 13. Juli 1887 (beide seit 1. Jan. 1888 in Kraft).

Hiernach unterliegen gegenwärtig dem Unfallversicherungszwange: 1) die industriellen Betriebe (als: Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Hüttenwerke, Werften, Bauhöfe, Fabriken, Motorenbetriebe) samt ihren Nebenbetrieben, ferner die Gewerbe der Schornsteinfeger, Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Steinhauer und Brunnenarbeiter; 2) der Betrieb der Post, Telegraphen-, Eisenbahn-, Marine- und Heeresverwaltungen, der Baggereibetrieb, die gewerbsmäßigen Transportbetriebe (Fuhrwerks-, Binnenschiffahrts-, Flößereibetrieb u. s. w.), der Speditions-, Speicherei- und Kellereibetrieb und die Hilfsgewerbe bei Handel und Schiffahrt; 3) die Land- und Forstwirtschaft, einschließlich der Kunst- und Handelsgärtnerei und der nicht unter 1 fallenden Nebenbetriebe; 4) alle Baubetriebe, insbesondere die Tiefbaubetriebe (gewerbsmäßige Ausführung von Eisenbahn-, Wege-, Wasser-, Strom-, Kanal-, Deichbauten u. s. w.) und die sog. Regiebauten; 5) die großen Seetransportbetriebe. Ein die Ausdehnung der U. auf Handwerk, Handel, Hausindustrie und Kleingewerbe betreffender Gesetzentwurf lag dem Reichstage 1894 vor; auch ein die Ausdehnung hauptsächlich auf den mit einem Handelsgewerbe verbundenen Lager- und Fuhrwerksbetrieb, auf Seefischerei und kleine Seeschiffahrt, aber nicht Handwerk beabsichtigender, dem Reichstage 1896/97 vorgelegter blieb unerledigt. Zweifel über die Versicherungspflicht entscheidet das Reichsversicherungsamt (s. d.).

Die U. erstreckt sich auf die Arbeiter ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Lohnes, ferner auf die niedern Betriebsbeamten mit einem Jahresverdienst bis zu 2000 M.; sie kann statutarisch auch auf höher gelohnte Betriebsbeamte, sogar auf Betriebsunternehmer ausgedehnt werden, auch steht diesen in gewissen Grenzen das Recht zu, sich selbst zu versichern.

Die öffentliche U. beruht auf dem Princip des Versicherungszwanges. Die in einem unfallversicherungspflichtigen Betriebe beschäftigten Personen sind mit Eintritt in die Beschäftigung und während deren Dauer ununterbrochen versichert, ohne ihr Wissen und Zuthun, sind jedoch nicht Mitglieder der für die Zwecke der Versicherung gebildeten Körperschaften und tragen unmittelbar zu deren Kosten nichts bei.

Die regelmäßigen Träger der Versicherung sind die Berufsgenossenschaften (s. d.), während in letzter Linie dem Reiche die Vertretung etwaiger, von den Berufsgenossenschaften nicht zu erfüllender Ansprüche obliegt. Für Reichs-, Staats- und Kommunalbetriebe ist die U. zum Teil unmittelbar dem Reiche, den Bundesstaaten und Gemeinden und Gemeindeverbänden übertragen und erfolgt, ohne Vermittelung von Berufsgenossenschaften, durch Ausführungsbehörden.