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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Volkslied

Das älteste erhaltene deutsche V. ist das Hildebrandslied (s. d.), das schon seine springende Darstellung als rechtes V. erweist. Daß es auch volkstümliche Liebeslieder gab, wäre nicht zu bezweifeln, auch wenn uns nicht der erhaltene Name «winileod» ihre Existenz seit dem 8. Jahrh. verbürgte. Später drangen aus den Versen der Vaganten (s. d.), die oft auch deutsche Lieder in ihrem Repertoire gehabt haben, Lieblingsgattungen dieser Studentenpoesie, namentlich das Kneiplied und der poet. Wettgesang in die deutsche Volksdichtung ein.

Als mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. in hölfisch-ritterlichen Kreisen zum erstenmal eine weltliche Kunstpoesie in deutscher Sprache aufkam, schloß sich diese trotz aller roman. Einflüsse in ihren schönsten Erzeugnissen an das lebendige deutsche V. an. Dem Nibelungenlied, der Gudrun und andern Epen aus der deutschen Heldensage liegen alte epische V. zu Grunde. Die ältesten einstrophigen Lieder des bayr.-österr. Minnesangs, die teils anonym, teils unter dem Namen des Kürenbergers, Dietmars von Aist u. a. erhalten sind, zeigen in ihrer köstlichen Einfachheit und Natürlichkeit überraschende Anklänge an die noch heute in jenen Gegenden blühenden improvisierten Schnadahüpfl. Die einstrophigen, meist lehrhaften Sprüche unter Spervogels Namen geben ein Bild der volkstümlichen Gnomik. Mehrstrophige V. wurden wohl meist zum Tanz gesungen; unter den Gedichten Gottfrieds von Neifen sind einige einfache Balladen dieser Art erhalten; aber auch die Lieder Neidharts, die Tanzleiche Tannhäusers, Ulrichs von Winterstetten u. a. lassen den Charakter der volksmäßigen Tanzpoesie durchschimmern. Seine Beziehungen zur Natur schöpfte der Minnesang aus dem V. Walthers schönste Lieder sind in Anlehnung an das V., freilich mit der technischen Meisterschaft reifster Kunst gedichtet.

Als um 1300 das Kunstinteresse des Adels verschwand und der philiströse Meistergesang (s. d.) das Erbe der höfischen Kunstdichtung antrat, da konzentriert sich das eigentliche poet. Leben der gesamten Nation im V., das im 14. und 15. Jahrh. seine höchste Blüte erreicht. Es wirkt zwar unbeholfen und roh, aber dafür entschädigt seine naive Ursprünglichkeit und sein stofflicher Reichtum. Im 14. Jahrh. berichtet uns die wertvolle Limburger Chronik, welch eine Fülle kurzer neuer Lieder aufkam und sich schnell verbreitete. Sehr wesentlich waren dabei die Melodien, die man meist nach dem Inhalt des Gedichts, für das sie zuerst verwendet waren, benannte; besonders beliebt waren der Hildebrandston, auf den man das umgearbeitete Hildebrandslied sang, der Herzog-Ernst-Ton, die Berner Weise, die ursprünglich in Liedern von Dietrich von Bern üblich war; dann der Benzenauer, der Bruder-Veits-Ton, ein altes Landsknechtslied, der Bruder Claus, der Papierton, der Ton vom Schuttensamen, vom Lindenschmied, der Wisbeckenton, der von Wilhelm von Nassau u. s. w. Die Beliebtheit dieser Weisen war so allmächtig, daß die geistlichen Lieder der Zeit, um populär zu werden, sich gern an die Melodie und oft parodisch auch an die Anfangsworte sehr weltlicher V. anschlossen; so sang man weltlich «Innsbruck, ich muß dich lassen», geistlich «O Welt, ich muß dich lassen»; weltlich «Den liebsten Buhlen, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller», geistlich «Den liebsten Buhlen, den ich han, der ist in Himmels Throne». Noch das prot. Kirchenlied konnte sich von diesem Brauch nicht losmachen; es erschienen im 16. Jahrh. ganze Sammlungen solcher geistlicher «Gassenbauer, Reiter- und Bergliedlein».

Übergroß war die Mannigfaltigkeit des Inhalts. Die Heldensage lebte in Bänkelsängerliedern fort. Novellenstoffe des Mittelalters behandelten die Lieder vom Bremberger, vom Möringer, vom Tannhäuser, vom Grafen von Rom; der Ulinger erzählt das Blaubartmärchen. Lieblingshelden des V. sind kecke Strauchdiebe und Stegreifritter, wie Eppelein von Geilingen, der Lindenschmied, der Schuttensamen, der Raumensattel, Albrecht von Rosenburg und der arme Schwartenhals. Historische V. begleiten die polit. Ereignisse, die Freiheitskämpfe der Schweizer und Ditmarschen, Maximilians Werbung um das Fräulein von Bretagne, die Thaten Sickingens und Frundsbergs und dauern bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges fort, gern illustriert auf fliegenden Blättern verbreitet. Oft nennt sich in der letzten Strophe der Landsknecht- und Reiterlieder ein «frummer Landsknecht» als Verfasser. Den einzelnen Festen gelten V., zumal dem Martinstage: die Martinslieder berühren sich mit der Zechpoesie, von deren Reichtum Fischarts berühmte «Trunkne Litanei» im Gargantua einen Begriff giebt; es gab geradezu Orden, Zunftgesetze der Trinker, die Anfänge unseres Comments, wie denn unsere heutigen Studentenlieder vielfach im 15. und 16. Jahrh. wurzeln. Rätsel- und Wunschlieder, wie das Traugemundslied, weisen in viel ältere Zeit zurück. Das Leben der Natur wird meist besungen in Verbindung mit der Liebe. Sie bildet natürlich das Hauptthema des V.: von der derben Zote bis zur zartesten Sehnsucht, von ausgelassener Lust bis zu tiefster Trauer, schlägt es alle Töne des Liebesliedes episch und lyrisch an.

Im Laufe des 16. Jahrh. sinkt das V. schnell: es wird roh und unproduktiv; nur die histor. Lieder reichen ins 17. Jahrh. herein; aber sie zeigen da alle Mängel des verkommenen Geschmacks, schmücken sich kokett mit modischen Fremdwörtern und gespreizten Redensarten, und die dauernde Popularität eines V. des 18. Jahrh., des «Prinz Eugenius» (1717), ist eine Ausnahme. Die bessern Stände wenden sich vom V. ab und pflegen, wenn nicht die durch Opitz und die Schlesischen Schulen vertretene gelehrte Kunstpoesie, dann das sog. Gesellschaftslied. Während der Minnesang stets nur einstimmige Weisen hatte, war im V. schon um 1500 Dreistimmigkeit des Gesangs beliebt. Durch H. Isaac, Ludw. Senffl, Geo. Forster und andere Meister des Kontrapunkts trat dafür im Laufe des 16. Jahrh. Vier- und Fünfstimmigkeit ein; aus den Niederlanden, Frankreich und namentlich Italien drangen dazu künstliche Melodien ein, die technische Anforderungen stellten, denen nur durch größte Übung und tüchtige Schlung zu genügen war.

So bildeten sich bereits gegen die Mitte des 16. Jahrh. «Kränzchen», Gesellschaften, die sich abwechselnd bei den einzelnen Mitgliedern versammelten und bei deren Zusammenkünften der jedesmalige Bewirter einen Kranz trug. Die metrisch genauen Texte, die man zu den neuen Melodien erfand und die sich vom alten V. je länger je mehr durch zierliche Tändelei und Künstelei unterschieden, nennt man Gesellschaftslieder. Die meisten der zahlreichen mit Musiknoten versehenen Liedersammlungen des 16. und 17. Jahrh. (so von Oeglin 1512, Ott 1533, Forster 1539 fg., das Lochheimer Liederbuch u. s. w.) enthalten neben echten V. eine wachsende Anzahl