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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Wirbelsäule

kanals, Verkrümmungen u. s. w., sind nicht selten, letztere werden oft auch später erworben. Dieselben Krankheiten, welche andere Knochen befallen, können auch bei der W. vorkommen und sind hier wegen der Nähe des Rückenmarks mit größerer Gefahr verbunden. – Vgl. Welcker, Über Bau und Entwicklung der W. (Halle 1878).

Bei allen Wirbeltieren legt sich die W. als ein elastischer, an beiden Enden zugespitzter Stab (chorda dorsalis) des innern Keimblatts an und um diese, auch als ein Produkt des mittelsten Keimblatts, die äußere Chordascheide. Diese liefert die Knochen der W. Bei niedern Fischen (Rundmäulern) bleibt sie zunächst faserig, sendet nach oben neben dem Rückenmark je eine Leiste, die sich oberhalb desselben in der Mittellinie vereinigen und so einen schützenden Kanal um dasselbe darstellen, der nur zum Durchtritt der Rückenmarksnerven stellenweise durchbrochen ist. Bei höhern Fischen (Knorpelfischen) treten in dieser Scheide zunächst um die Chorda herum ringförmige Verknorpelungen auf, dann hintereinander in dem obern Kanal; diese Verknorpelungen verdrängen die ursprüngliche Masse der Chorda mehr und mehr, bis sie als doppelt ausgehöhlte knorplige Wirbelkörper mit obern knorpligen Bogenfortsätzen (bei Knochenfischen sind beide durch Aufnahme von Kalksalzen in verschiedenem Umfange verknöchert) erscheinen. Jeder Wirbel hat ein centrales Loch, durch das sich der Rest der Chorda, die zwischen je zwei Wirbeln entsprechend deren Aushöhlungen angeschwollen ist, hindurchzieht. Bei den höhern Tieren, besonders bei Vögeln und Säugetieren, wird durch Verknöcherungen der äußern Scheide die Chorda bis zum Verschwinden zurückgedrängt. Die W. teilt sich in die Hals-, Rumpf- und Schwanzregion, die Rumpfregion wieder in die Brust-, Lenden- und Beckenunterregion. Alle diese Regionen und Unterregionen sind sehr verschiedenartig entwickelt und die Gesamtzahl der Wirbel schwankt von 10 (Frösche) bis 422 (Abgottschlange). Bei Säugetieren ist die Zahl der Halswirbel sehr konstant 7, die der Brustwirbel schwankt von 12 bis 29, die der Lendenregion von 2 bis 9, wobei ziemlich allgemein gültig ist, daß die Wirbelzahl der Brust- und Lendenregion einer Tierart in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen. Das Kreuzbein besteht meist aus 3 Wirbeln, aber einerseits bisweilen auch bloß aus 2, andererseits aus 13. Am ungleichartigsten ist die Zahl der Schwanzwirbel von 3 (Mensch) bis 40 (kleiner Ameisenbär). Die Vögel haben in der Region des Halses 9‒24, in der des Rückens 6‒10 Wirbel, während sich die Lendenwirbel zusammen mit den Kreuzbeinwirbeln und den vordern Schwanzwirbeln mit dem Becken vereinigen. Die Zahl der freien Schwanzwirbel beträgt 8‒10, aber der letzte entsteht aus einer Verschmelzung von mehrern. Abgesehen von den Kreuzbeinwirbeln (2) sind die Zahlenverhältnisse bei Reptilien sehr schwankend, ebenso bei Amphibien und Fischen, bei denen eine derartige Einteilung der W. wie bei den übrigen Wirbeltieren überhaupt nicht durchgeführt werden kann und sich eigentlich nur eine Rumpf- und Schwanzregion unterscheiden läßt. Die Verbindung der einzelnen Wirbel ist bei den einzelnen Wirbeltiergruppen, dann aber auch in den einzelnen Regionen der W. sehr verschieden. Am festesten ist die Verbindung bei Fischen und Walen, am beweglichsten bei Schlangen und im Schwanze (Greifschwanz) mancher Säugetiere; bei Vögeln sind die Wirbel des Halses äußerst beweglich, die der Rumpfregion sehr fest miteinander vereinigt. Man unterscheidet je nach den Aushöhlungen der Wirbelkörper: amphicöle (an beiden Seiten ausgehöhlte, damenbrettsteinähnliche Wirbel), procöle (vorn ausgehöhlte) und opisthocöle (hinten ausgehöhlte) Wirbel.

Rückgrats- oder Wirbelsäulenverkrümmungen sind äußerst selten angeboren, in der Regel nach der Geburt erst erworben und am häufigsten dadurch, daß man Kinder, ehe ihre W. die genügende Festigkeit besitzt, lange Zeit aufrecht sitzen läßt oder ihnen eine gekrümmte Haltung (beim Schreiben u. s. w.) zuläßt. Man unterscheidet eine Verkrümmung nach der Seite (Skoliose), eine nach vorn (Lordose, Senkrücken) und eine nach hinten (Kyphose, Höcker, Buckel). Eine jede dieser Verkrümmungen ruft nach und nach im benachbarten höher oder tiefer gelegenen Teile des Rückgrats, um das Gleichgewicht in der W. wiederherzustellen, eine Verkrümmung nach der entgegengesetzten Seite hervor, und diese heißt deshalb die kompensierende. So erzeugt z. B. eine Seitenverkrümmung der Brustwirbel nach rechts eine Skoliose der Lendenwirbel nach links u. s. w. Die Skoliose (seitliche Rückgratsverkrümmung, hohe Schulter), die häufigste und meistens nach rechts im Brustteile der W. (mit linksseitiger kompensierender Skoliose des Lendenteils und Beckens) entstehende Verkrümmung wird veranlaßt durch Störungen des regelmäßigen Antagonismus der Muskeln (infolge schiefer Haltung, ungleichmäßiger Belastung des Körpers, vorwiegenden Gebrauchs der einen Extremität bei Unthätigkeit der andern), ferner durch einseitige Lähmung der Einatmungs- und Rückenmuskeln (besonders nach Brustfellentzündung) sowie durch einseitige (rhachitische oder coxalgische) Mißgestaltung des Beckens. Im wesentlichen ist die Skoliose durch abnorme Belastung der W. bedingt (sog. Belastungsdeformität). Über ihre Verhütung und Behandlung s. Schiefwerden. Die Kyphose oder der Buckel, das Auswachsen, die winklige oder bucklige Verkrümmung der W., wird fast immer durch die kariöse Entzündung und Verschwärung der Wirbelknochen, die sog. Pottsche Wirbelkrankheit oder Spondylarthrocace (Malum Pottii), verursacht, durch die ein oder mehrere Wirbelkörper kariös erweicht werden, unter der Last des Rumpfes immer mehr zusammensinken und dadurch schließlich eine spitzwinklige Knickung der W. in der Gegend der zerstörten Wirbelknochen veranlassen. Die Krankheit, deren häufigste Ursache die Tuberkulose ist, kann alle Stellen der W. befallen und tritt am häufigsten im Kindes- und Jünglingsalter auf; ihre frühesten Symptome sind dumpfe Empfindungen im Rückgrat und auffallend rasch eintretende Ermüdung, unsicherer Gang und allgemeine Abzehrung mit Fieber und Schweißen. Die Behandlung erfordert ununterbrochenes Liegen auf dem Rücken oder Tragen eines zweckmäßig konstruierten Stützapparates (Taylorsche Maschine oder Gipskorsett) sowie ein sorgfältig überwachtes diätetisches Verhalten. Neuerdings hat man auch durch gewaltsame Streckung der verkrümmten W. gute Resultate erzielt. (S. Skrofulose.) Lordose der W. kommt meist an den Lendenwirbeln und hier fast stets als eine konsekutive vor; sie kompensiert als solche entweder eine Kyphose oder die durch Rhachitis, angeborenes Hinken, Coxalgie herbeigeführten Abweichungen des