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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Gegenwärtige Agrarverhältnisse)

ist und in der Spiritusproduktion eine Hauptstütze für den landwirtschaftlichen Betrieb auf den Sandböden der östl. Provinzen besitzt. Unter den Zucker produzierenden Staaten steht Deutschland weitaus an erster Stelle mit einem Export, der drei Fünftel seiner gesamten Zuckerproduktion umfaßt. Während bei der Wollproduktion ebenfalls die überseeische Konkurrenz, namentlich der Wettbewerb Australiens bestimmend eingreift, ist beim Spiritus und Zucker die Überproduktion, falls in einer solchen die Ursache des Preisrückganges zu erblicken sein sollte, ganz vorwiegend oder ausschließlich auf die Entwicklung der europ. Produktionsverhältnisse zurückzuführen. Für die Zuckerproduktion kommen sogar ausschließlich solche Länder in Betracht, in welchen die landwirtschaftliche Kultur auf einer besonders hohen Entwicklungsstufe sich befindet. Der Preisfall des Rapses, der zur Folge hatte, daß der Rapsbau in Deutschland fast ganz aufgegeben wurde, rührt her von der Verdrängung des einheimischen Pflanzenöls durch das Petroleum und sonstige mineralische und tropische Öle, sowie von der Konkurrenz des ind. Rapses.

Einer günstigern Entwicklung haben sich indessen die Preise der tierischen Produkte mit Ausnahme der Wolle bisher noch zu erfreuen gehabt. Die Preise für Schlachtvieh stellen sich auf dem Berliner Markte pro 100 kg in M. folgendermaßen:

Jahre Rinder Fleischgewicht II a Durchschnittspreis Schweine Lebendgewicht II a höchster Preis Kälber Fleischgewicht I a niedrigster Preis Hammel Fleischgewicht I a Durchschnittspreis

1882 97,9 108,2 108,1 106,9

1886 93,5 94,2 86,5 92,7

1890 100,9 115,7 103,2 106,6

1894 109,6 101,8 99,1 96,3

Die Butterpreise erreichten den Höchststand in Deutschland in den achtziger Jahren. Für 1 kg wurden 1881-85 in Preußen durchschnittlich 235,4 Pf., in München 221,6 Pf. gezahlt; 1893 hingegen 227 und 204 Pf. Seitdem hat sich ein weiterer Rückgang bemerkbar gemacht. In den deutschen Preisen spiegelt sich die Preisbewegung des Weltmarktes im allgemeinen wieder. Das Resultat der Preiszusammenstellung ist das, daß auf allen wichtigen Märkten Europas ein allgemeiner und starker Preisrückgang aller wichtigen landwirtschaftlichen Produkte seit den siebziger Jahren eingetreten ist, von dem nur einzelne Gattungen auf einem Teil der Märkte weniger oder gar nicht berührt wurden.

Eine wichtige Frage ist es, wie weit die derzeitigen Währungsverhältnisse von Einfluß auf die Preisgestaltung gewesen sind und noch sind. Die extremen Bimetallisten wollen in der Demonetisierung des Silbers, d. h. in der Abschaffung des Silbers als Geldmetall zu Gunsten des Goldes, die seit der deutschen Münzreform 1871-75 in wachsendem Umfange stattgefunden hat, die Hauptursache des allgemeinen Preisrückganges der Weltmarktartikel, insbesondere der landwirtschaftlichen Produkte, vor allem des Getreides, erblicken. Die Beweisführung stützt sich auf die Behauptung einer zunehmenden relativen Goldknappheit, welche in allen Goldwährungsländern bewirke, daß das Gold verteuert, mithin alle Waren verbilligt würden. Von größerer Wirksamkeit indessen als jenes ist das andere Argument, das aus den Valutadifferenzen und ihren Schwankungen entnommen ist. Daß einer Anzahl von Getreideexportländern, Indien, Argentinien, Rußland u. s. w., der Umstand, daß ihre Valuta gegen die Valuta der Hauptimportländer mehr oder minder entwertet wurde, insofern vorübergehend oder dauernd für ihren Export zu gute gekommen ist, kann kaum geleugnet werden. Denn diese Valutaentwertung wirkte wie eine Exportprämie auf die Ausfuhr so lange, als nicht im Innern der Exportländer eine entsprechende Preisausgleichung eintrat, was nachweisbar meistens nicht geschah. Mit der Demonetisierung des Silbers und seiner Entwertung gegenüber dem Golde steht diese Valutaverschlechterung indessen nur in einzelnen Fällen im Zusammenhang, so vor allem in Ostindien. Aber selbst in Indien konnte die Reduktion des Silbers auf die Hälfte des frühern Wertes einen Rückgang der Ausfuhren nicht verhindern, Beweis genug, daß die Valutadifferenz nicht das ausschlaggebende Moment war. In Argentinien, das aus einer beispiellos, um mehrere hundert Prozent, entwerteten Valuta die größten Vorteile für seinen Export zieht, geht die Wirkung von der Entwertung einer auf Gold basierten Papiervaluta aus. In Rußland hat sich der Papierrubel von seiner ursprünglichen Silbermetallunterlage völlig gelöst. Nordamerikas und Australiens Exporthandel ist, da ihre Währung mit derjenigen der Importländer übereinstimmt, dem Einfluß der Valutadifferenzen völlig entzogen.

II. Gegenwärtige Agrarverhältnisse. Die Rückwirkung des geschilderten starken Preisrückganges und der Rente war überall eine tiefgreifende. Dennoch war sie nach Art und Maß im einzelnen verschieden, je nach der verschiedenartigen Gestalt der Agrarverfassung und der sonstigen Agrarverhältnisse in den einzelnen Ländern und Gegenden. Vor allem tritt ein bemerkenswerter Unterschied zwischen England und dem europ. Kontinent hervor. In Großbritannien fehlt im Gegensatz zum Kontinent der kleine und mittlere selbst wirtschaftende Eigentümer so gut wie ganz. Ebenso mangelt der für Deutschland so wichtige selbstverwaltende Großgrundbesitzerstand. Der ganze Grundbesitz ist der Hauptsache nach in den Händen einer kleinen Anzahl mehr oder minder reicher Familien vereinigt und befindet sich zugleich ganz überwiegend im Zustande fideïkommissarischer Gebundenheit, die zwar der Rechtsform nach zeitlich begrenzt, jedoch vermöge fortwährender Erneuerung der fideïkommissarischen Stiftungen thatsächlich in der Regel eine dauernde ist. Das herrschende Anerbenrecht sowie andere Umstände, wie die aus dem Mangel von Grundbüchern und der Unsicherheit der Besitztitel sich ergebende Kostspieligkeit des Besitzwechsels, kommt der Erhaltung der Besitzkonzentrierung zu gute. Außerdem pflegt im Erbfalle das Grundeigentum nicht mit Kapitalschulden, sondern nur mit Renten belastet zu werden, welche meistens nur auf die Lebenszeit der Bezugsberechtigten gelten. Allgemein, auch dann, wenn nicht die Ausdehnung des Besitzes dazu zwingt, ist der landwirtschaftliche Betrieb den Händen von mittlern und größern Pächtern überantwortet, während die größeren Eigentümer nur eine mäßige Farm der eigenen Bewirtschaftung vorbehalten, die selten des Gewinnes wegen erfolgt. Für die Pachtungen übernehmen, nur Irland ausgenommen, die Grundeigentümer regelmäßig sämtliche Ausgaben für dauernde Anlagen und Meliorationen selbst, während die Pächter, die, teils auf mehrjährige Kontrakte