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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Entwicklungsgang; Selbständige Anfänge einer Kunstübung

73 ^[Seitenzahl nicht im Original]

Mittel- und Nord-Europa.

Selbständige Anfänge einer Kunstübung. Es ist nicht üblich, von einer mitteleuropäischen Kunst im Altertum zu sprechen, da die Ansicht vorherrscht, daß außerhalb Griechenlands und Italiens keine ureigene selbständige Kunstübung sich entwickelt habe. Dies führt eigentlich auf die Hauptfrage zurück, ob überhaupt die Kultur an verschiedenen Punkten selbständig Ursprung und Weiterbildung fand, oder von einem Punkte aus allmählich weiterverbreitet worden sei. Ich nehme das erstere an: eine unabhängige Entstehung der Kultur in verschiedenen Kreisen, die bis zu einer gewissen Stufe auch selbständig sich entwickelte. Erst dann, wenn diese verschiedenen Kulturkreise in engere Berührung und Beziehung gelangen, tritt das Naturgesetz in Kraft, daß der Stärkere den Schwächeren vernichtet, in diesem Falle, daß die höhere Kultur die unentwickelte verdrängt und auch in derem Gebiete herrschend wird. Von diesem Standpunkt ausgehend, komme ich natürlich zu der Annahme, daß auch auf mitteleuropäischem Boden die Anfänge einer Kunstübung selbst-ständige sind. Da man aber hier erst in späterer geschichtlicher Zeit auf jene Stufe gelangte, welche der Süden Europas schon Jahrhunderte vorher erreicht hatte, so kam diese bodenständige Kunst zu keiner rechten Entwicklung. Der Handelsverkehr hatte schon in den letzten Jahrhunderten v. Chr. auch das mittlere Europa beeinflußt, und die politische Herrschaft der Römer machte hier aller Selbständigkeit ein Ende.

Als Hauptgrund für die Ansicht, daß die mitteleuropäische Kunstübung von Südosten her eingeführt wurde, also nicht bodenständig sei, gilt die große Verwandtschaft der Formen, namentlich in den Verzierungen, oder, wie man zu sagen pflegt, der Stilarten. Da es sich aber um die einfachsten und ältesten Formen handelt, zu deren Findung keine sonderlich hohe Begabung gehört, andererseits bezeugt ist, daß die "Barbaren" Mitteleuropas keineswegs kulturunfähig waren, so halte ich jenen Grund nicht für ausreichend, um für die Steinzeit und älteste Bronzezeit die Selbständigkeit Mitteleuropas zu leugnen. Wohl aber ist richtig, daß dessen ureigene Kunstübung für die Gesamt-Entwicklung keine Bedeutung gewann, weil sie (schon von der jüngsten Bronzezeit an) allmählich in der fremden Eigenart aufging.

Es lassen sich auch wieder verschiedene Gebiete unterscheiden, die gewisse Besonderheiten aufweisen. Die Küstenländer der Nord- und Ostsee, das westliche Mitteleuropa (Gallien-Frankreich), das nördliche Alpengebiet bis zur Donau, das Karstland mit dem Klagenfurter Becken, endlich das Tiefland an der mittleren Donau (Ungarn) scheinen je eigene Kulturkreise gebildet zu haben.

Entwicklungsgang. Auf europäischem Boden läßt sich eigentlich am besten der Entwicklungsgang der Kunst von den ersten Anfängen an verfolgen, da letztere in den östlichen Kulturgebieten nicht mehr zutage treten, weil sie eben in weiter entfernten Zeiträumen zurückliegen. Eine kurze Uebersicht dieses Ganges wird daher am Platze sein.

^[Abb.: Fig. 74. Abguß eines Teiles einer Saaldecke aus Orchomenos.]