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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die Zeit der "Renaissance"

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Die Zeit der "Renaissance".

Naturtreue zur veredelten und verklärten Schönheit. - Eine größere Selbständigkeit beziehungsweise besondere Eigenart bekundet die Bildnerei am Niederrhein, in Westfalen, Sachsen und in Tirol. Die niederrheinische Holzschnitzerei huldigt mehr der malerischen Auffassung und überfüllt ihre Werke mit Figuren, so daß sie einen unruhigen Eindruck machen; ähnliches ist in Westfalen zu bemerken, nur daß man hier sich von der scharfen Formengebung der Gotik wieder zu der weicheren der romanischen Zeit zurückwendet, anstatt fortzuschreiten. In Sachsen und im übrigen Norddeutschland vermag man sich am schwersten von dem Derbkräftigen zum Anmutigen durchzuringen, und wenn letzteres auch in Einzelheiten hervortritt, so bleibt doch eine gewisse Uebertreibung in den Bewegungen und allzustarke Betonung des Natürlichen das Hauptmerkmal.

Tirol. Michael Pacher. Dichterische Auffassung und großartige Einfachheit zeichnet das Hauptwerk des Tiroler Meisters Michael Pacher aus, der schon als bemerkenswerter Maler genannt wurde: nämlich den Altar zu St. Wolfgang am Abersee. Die Verhältnisse der Körper sind zwar vielfach unrichtig, auch die Behandlung des Gewandes ist etwas wunderlich, das Ganze wirkt aber doch ungemein eindrucksvoll durch die von tiefem Schönheitsgefühl zeugende Durchbildung der Köpfe (vergl. Fig. 393).

Nürnberger Schule. Veit Stoß. Zu Ende des Jahrhunderts wird die schwäbische Schule völlig überholt durch die fränkische Kunst Nürnbergs, welches auch die Hauptstätte der Steinbildnerei wird, die im 16. Jahrhundert die Holzschnitzerei zurückdrängt. Für letztere bahnte in Nürnberg den Umschwung Veit Stoß (1440-1533) an, eine merkwürdige Persönlichkeit von unsteter und "heilloser" Eigenart, aber von hoher künstlerischer Begabung. In Nürnberg geboren, muß er daselbst schon früh zu Ansehen gelangt sein, denn 1477 wurde er nach Krakau berufen, wo er den großartigen Hochaltar der Frauenkirche ausführte, eines der bedeutendsten Werke deutscher Kunst (Fig. 480). Er fertigte in Polen noch eine Reihe anderer Arbeiten - darunter das Marmorgrabmal Kasimirs IV. - und kehrte 1496 in die Vaterstadt zurück, wo inzwischen von einem Altersgenossen, Adam Kraft, der Aufschwung der Steinbildnerei begründet worden war und das regste Kunstleben herrschte.

Unter dem Einflusse der Malerei Wohlgemuths war schon nach 1470 ein freierer Zug in die Nürnberger Bildnerei gekommen, und Dürers Geist wirkte auch auf diese befruchtend ein. Man hatte sich von der Steifheit der Gotik bereits losgemacht, als Veit Stoß heimkehrte und nun der neuen Richtung auch in der Holzschnitzerei zum völligen Durchbruch verhalf, wie dies Kraft in der Steinbildnerei gethan hatte. In seinen Arbeiten begegnen wir bereits der völligen Unabhängigkeit des Bildnerischen vom Baulichen und darin liegt wohl sein Hauptverdienst. Im Einzelnen läßt sich freilich mancherlei bemängeln, wie denn überhaupt in den größeren Arbeiten viel Ungleichmäßiges enthalten ist; die Haltung einzelner Gestalten ist bisweilen gezwungen oder die Gewandung zeigt eckige

^[Abb.: Fig. 483. Kraft: Pergenstorfersches Hochbild.

Nürnberg. Frauenkirche.]