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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die Malerei des 16. Jahrhunderts

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Die Malerei des 16. Jahrhunderts.

und den Blick auf den Mittelpunkt des Ganzen hinzuleiten. Nicht minder vielgestaltiges Leben herrscht in der Gruppe der Engel, auch hier ist jeder der Träger einer besonderen Empfindung; von der unbefangenen Schalkhaftigkeit und dem kindlichen Uebermut bis zur tiefsten Ergriffenheit wird die ganze Stufenleiter der Gefühle versinnlicht. Maria selbst ist wohl die reinste Verkörperung der Seligkeit, deren ein Menschenkind fähig ist. Tizians Auffassung der Madonna unterscheidet sich wesentlich von jener aller Anderen. Wir sehen ein urgesundes, kräftiges Weib aus dem Volke, mit einfach natürlichen Empfindungen, keuscher Seele, unverdorben von Weltlichkeit - das Urbild des Weibes, wie man es sich von Gott ursprünglich geschaffen vorstellen mag. Der Gedanke der "Sündenlosigkeit" des zu der Würde der Gottesmutter bestimmten Menschenkindes ist niemals einfacher und treffender ausgedrückt worden. "Menschlich" ist ja diese Madonna; Tizian hebt sie nicht über die Weiblichkeit hinaus, aber sie ist in deren Grenzen die reinste und vollkommenste Erscheinung.

Dieses Weib wird nun in dem Augenblicke dargestellt, in welchem der Seele das höchste denkbare Glück zu teil wird: die Befreiung vom Irdischen und die Erhebung zum Göttlichen. Diese äußerste selige Wonne spricht sich in dem Blicke Marias aus, in welchem das ganze Empfindungsleben zusammengefaßt ist. Die zagende Demut, das Bangen vor dem Allmächtigen, das Staunen vor dem Glanz des Himmels und die Freude, von diesem

^[Abb.: Fig. 547. Palma Vecchio: Selbstbildnis.

München, Pinakothek.]