Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Diphtheritis

1004

Diphtheritis (beim Menschen).

hautpartie ab, wird in einen feuchten, schmutzig graubraunen Schorf umgewandelt und stellt ein brandiges Geschwür dar, welches sich beim Übergang zur Heilung allmählich reinigt, aber einen Substanzverlust zurückläßt, welcher nur mit Hinterlassung einer Narbe ausheilt. Die Ursachen der D. sind noch nicht ganz einwurfsfrei festgestellt, indessen nimmt man mit hoher Wahrscheinlichkeit an, daß die massenhaft an den erkrankten Stellen vorkommenden kleinsten Pilze (Bakterien) die eigentlichen Träger des diphtheritischen Giftes seien. Für diese Deutung spricht das Vorkommen eines sogen. Inkubations- oder Latenzstadiums, d. h. einer mehrtägigen Pause zwischen der Ansteckung und dem Ausbruch der Krankheit, ferner das epidemische Auftreten der Rachendiphtheritis, die notorische Übertragbarkeit sowie der Umstand, daß man durch absichtliche Übertragung der sogen. Diphtheriepilze auf die Schleimhaut (sogar auf die Hornhaut des Auges) von Tieren die D. künstlich hervorrufen kann.

Es ist daher die epidemische D. des Rachens (brandige Bräune, s. Tafel "Halskrankheiten"; Fig. 5) eine mit Recht gefürchtete, in hohem Grad ansteckende Krankheit, deren Ansteckungskeime von großer Widerstandsfähigkeit sind, wochen- und monatelang angetrocknet liegen können, um dann auf geeignetem Nährboden sofort mit alter Bösartigkeit weiterzuwuchern. Ein kleinster Fetzen der Diphtheritishaut, den der Kranke beim Bepinseln aushustet, kann dem Arzte, der nicht mit größter Sorgsamkeit demselben ausweicht, Auge und Leben kosten, wie zahlreiche traurige Erfahrungen gelehrt haben. Auch diese Ansteckungsfähigkeit kleinster Mengen deutet auf einen parasitischen Ursprung, und wenn die D. in milderer Form niemals ausstirbt, dagegen zuweilen sich zu verheerenden Epidemien steigert, so ist auch dieser Wechsel in der Bösartigkeit nur bei der Annahme eines lebenden Kontagiums einigermaßen verständlich (vgl. Mykosen).

Seitdem die D. zu Anfang der 60er Jahre unsers Jahrhunderts in unsern Gegenden aufzutreten begann, hat sie allmählich an Ausdehnung und Bösartigkeit stetig zugenommen, und sie ist jetzt als einheimische Epidemie definitiv bei uns eingebürgert. Die D. besitzt von allen entzündlichen Krankheiten die größte Sterblichkeitsziffer und fordert die weitaus meisten Opfer im zarten Kindesalter. Die Gesetze, welche den Ausbruch und die Verbreitung dieser Volkskrankheit regeln, kennen wir nicht; es hängen dieselben nicht von den Witterungsverhältnissen ab, sondern die D. erhebt sich zu epidemischer Verbreitung im Winter wie im Sommer. Bei ihrer Verbreitung im Binnenland hält sie sich nicht an die Verkehrswege, auch zeigen die herrschenden Winde keinen Einfluß auf dieselbe. Begünstigt wird in den Städten die Verbreitung der D. durch schlechte hygieinische Beschaffenheit der Wohnungen, durch feuchte, verdorbene Luft, besonders in Kellerwohnungen, durch schlechte Nahrung und Unsauberkeit. Die Sterblichkeitszahl betrug nach den Ermittelungen des Gesundheitsamtes vom Jahr 1876 in Augsburg 0,8 Proz. aller Verstorbenen, in Straßburg 0,9, Breslau 1,9, Hannover 2,6, Köln 3,3, Stettin 4,1, Quedlinburg 7,3, Nordhausen sogar 12 Proz.

Der Verlauf der Rachendiphtheritis beginnt gewöhnlich mit unbedeutendem Frösteln, Mattigkeit, Mangel an Appetit, selten mit einem Schüttelfrost. Die Kranken klagen dabei über Schlingbeschwerden, welche anfangs nicht eben sehr lästig sind. Untersucht man jetzt die Schleimhaut des Rachens und des Gaumens, so findet man sie bereits stark gerötet und mit weißgrauen Flecken oder zusammenhängenden Membranen überzogen; auch entdeckt man am Hals einige angeschwollene Lymphdrüsen. Dies sind schlimme Zeichen, welche eine schwere und gefährliche Krankheit erwarten lassen, auch wenn kein Fieber vorhanden ist und die Patienten bisher sich verhältnismäßig so wohl fühlten, daß sie kaum im Bett bleiben mögen. Hatte die Krankheit einen stürmischen Anfang mit einem Frostanfall und Erbrechen genommen, so pflegt auch der weitere Verlauf derselben ein schwerer zu sein. Allerdings erreichen weder die Schlingbeschwerden noch das Fieber in der Regel einen besonders hohen Grad; aber die Kranken sehen blaß und eingefallen aus, die Augen sind matt, der Puls ist klein und sehr frequent, große Hinfälligkeit und Teilnahmlosigkeit für alle Vorgänge in ihrer Umgebung bemächtigt sich der Kranken. Die Bildung fauliger Geschwüre im Rachen ist mit einem sehr übeln und penetranten Geruch aus dem Mund verbunden; aus dem Mund und nicht selten auch aus der Nase fließt eine mißfarbige, stinkende Flüssigkeit ab. Bei der Untersuchung des Harns findet man denselben sehr häufig reich an Eiweiß. In günstigen Fällen währt der Zustand 2-3 Wochen, dann reinigen sich die Geschwüre, die Gefahr ist vorüber, und es folgt ein oft recht langes Stadium der Rekonvaleszenz. In bösartigen Fällen kann schon nach wenigen Tagen unter den Erscheinungen schnell fortschreitender Erschöpfung, aber meist bei ganz klarem Bewußtsein der Tod eintreten. Merkwürdigerweise zeigen viele Patienten trotz tief gehender Veränderungen an der Rachenschleimhaut ein kaum gestörtes Befinden, so daß ihr Zustand nicht die geringste Besorgnis zu erregen scheint. Aber gerade solche Patienten erleiden häufig gegen alle Erwartung einen plötzlichen Kräfteverfall und gehen in kürzester Frist zu Grunde. Am gefährlichsten steht es für den Kranken, wenn die D. mit Kehlkopfskrupp verbunden ist, und namentlich, wenn die D. im Verlauf einer Scharlachepidemie aufgetreten ist. Ist der Tod erfolgt, so findet man am Orte der Erkrankung selbst massenhafte Bakterienhaufen, sehr oft aber solche auch in den Nieren oder der stets geschwollenen Milz, jedenfalls als Zeichen einer schweren Allgemeininfektion parenchymatöse Entzündungen des Herzens, der Nieren und Leber, zuweilen Blutungen der Netzhaut und der Gehirnsubstanz.

Als Nachkrankheiten stellen sich zuweilen Lähmungen ein, allein diese schließen sich niemals unmittelbar an die D. an, sondern treten erst auf, wenn der ehemalige Patient seit 2-4 Wochen vollkommen genesen zu sein scheint. Am häufigsten werden der weiche Gaumen und die Rachenmuskeln gelähmt, so daß das Schlingen sehr erschwert und die Sprache eine näselnde wird. Hierzu gesellen sich häufig Lähmungen der Augenmuskeln mit Verlust des Akkommodationsvermögens, wobei die Kranken anfangen zu schielen. Auch die Arme oder Füße, namentlich die letztern, werden oft von einer Lähmung betroffen. Es ist noch nicht gelungen, den Zusammenhang dieser Lähmungen mit der D. aufzuklären. Übrigens geben diese diphtheritischen Lähmungen eine gute Prognose: sie gehen fast in allen Fällen nach kürzerer oder längerer Dauer vollständig vorüber.

Von großer Bedeutung ist es bei der D., Schutzmaßregeln gegen ihre weitere Verbreitung zu treffen. Nur der Arzt und das Wartepersonal soll sich in der Nähe der an D. Erkrankten aufhalten, alle andern Personen sind zu entfernen, und wenn Kinder im Hause sind, so thut man gut, sie aus dem Ort zu ent-^[folgende Seite]