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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Epoche der Revolution und des Kaiserreichs).

quieus (gest. 1755) "Lettres persanes" weckten eine Schar von Nachahmern, die jetzt meist vergessen sind. Aus dem Familienroman, in welchem man die Sitten der Zeit im Detail zu schildern suchte, gingen die lasciven und Schmutzromane hervor, welches Genre seinen Kulminationspunkt in den über alle Maßen unsittlichen Arbeiten des Marquis de Sade (gest. 1814) erreichte. Crébillon der jüngere (gest. 1777) ist als der erste zu betrachten, welcher diese Gattung mit bestimmter Absicht in die f. L. brachte; er malte mit genialer Leichtigkeit und nur allzu drastischer Wahrheit die Sittenverderbtheit der großen Welt, umhüllte aber seine obscönen Schilderungen wenigstens mit einem wenn auch durchsichtigen Schleier. Weit derber und cynischer sind Restif de la Bretonne (gest. 1806), Choderlos de Laclos (gest. 1803), der Verfasser von "Les liaisons dangereuses" (1782), und Louvet de Couvray (gest. 1797), der Autor des "Chevalier de Faublas" (1789). Die Bemühungen des Grafen Tressan (gest. 1783), den Geschmack an den ältern Ritterromanen zu erneuern, erfreuten sich bei dem bessern Teil des Publikums einer großen Beliebtheit.

Die Revolutions- und Restaurationsepoche.

Eins hatten die destruktiven Tendenzen der Aufklärungslitteratur des 18. Jahrh. unangetastet gelassen: die litterarischen Formen, und auch die Revolution hatte weder Zeit noch Geist genug, sich an neue Schöpfungen zu wagen. Der wüste Lärm der Gasse und der Terrorismus der Klubs verscheuchten die Poeten; alles Leben flüchtete sich in die Journale und Pamphlete, und nur die parlamentarische Beredsamkeit entfaltete sich zu reicher Blüte. Die Theorien Montesquieus und J. J. Rousseaus, die Prinzipien der Freiheit und des Fortschritts fanden begeisterte Lobredner, und Mirabeau, Danton, Camille Desmoulins und Robespierre waren die Helden des Tags. Wo die Poesie ihre Stimme zu erheben wagte, stand sie vollständig im Dienste der Republik und feierte deren Idole in Oden und Dithyramben; die "Marseillaise" (von Rouget de Lisle) und M. J. ^[Marie-Joseph] Chéniers "Hymne à l'Être suprême" sind die charakteristischen Erzeugnisse dieser Lyrik. Harmloser war diejenige Richtung, welche der von J. J. Rousseau geweckten und von Bernardin de Saint-Pierre genährten Vorliebe der Zeit für Naturschilderungen entgegenkam, und deren vorzüglichster Vertreter Jacques Delille (1738-1813) war. Aber auch diese Schule konnte sich von philosophischen Abstraktionen und mythologischem Bilderkram nicht freimachen; die Natur, die sie in unendlichen Variationen und in saft- und kraftlosen Versen besang, existierte nur in ihrer Einbildung, und die glänzende Form sollte für den banalen Inhalt entschädigen; Gefühl, Phantasie und Sprache waren erstarrt. Auf der Bühne, wo neben den Shakespeareschen Dramen, wie sie Ducis dem französischen Geschmack angepaßt hatte, Voltaire und Beaumarchais unumschränkt herrschten, machten die Gefühle und Sitten der Zeit allmählich ihren Einfluß geltend: in wilden, blutigen Dramen und in weinerlichen Lustspielen wurden die Feinde der Republik gehöhnt und gerichtet und ihre Anhänger sowie die Opfer der Monarchie glorifiziert. Nur wenige Dichter, wie M. J. ^[Marie-Joseph] Chénier (1764-1811) und L. Laya (1761-1833), hatten den Mut, freiere Ansichten zu bekennen; doch die Drohungen des argwöhnischen republikanischen Zensors schreckten sie in immer engere Grenzen zurück. Einige tiefer angelegte Naturen fühlten die Notwendigkeit einer Reform, vor allen André Chénier (1762-94), bei welchem Glut und Kraft der Phantasie, Frische und Fülle des Ausdrucks durch anmutige Sinnlichkeit verschönt und durch den reinsten Geschmack geadelt wurden; aber ein frühes Verhängnis hatte den liederreichen Mund jäh verstummen lassen, und ein Vierteljahrhundert lang lagen die Poesien des unglücklichen Dichters im Staub der Vergessenheit. Je mehr jedoch die Ausbrüche der Roheit und Zügellosigkeit mit der erstarkenden Autorität der Staatsgewalt und der zunehmenden Sicherheit des Lebens verschwanden, um so größer wurde auch in Sprache und Litteratur die Sehnsucht nach Erneuerung, und als mit dem Beginn unsers Jahrhunderts die Morgenröte einer neuen Zeit hereinbrach, wurde sie mit jubelnder Begeisterung begrüßt. Die Verkündiger und Vorkämpfer der neuen Ideen waren Chateaubriand (1768-1848) und Frau v. Staël (1766-1817): sie zerbrachen die Fesseln, in die der Klassizismus den nationalen Geist geschlagen hatte, erweckten wieder das Gefühl für Religion und Natur, brachten das Recht der Individualität, welches die Revolution geschaffen, poetisch zur Geltung und lenkten den Blick ihrer Landsleute auf die herrlich erblühte deutsche und englische Litteratur. Manch wackerer Streiter stand ihnen zur Seite und begeisterte das heranwachsende Geschlecht, vornehmlich Ch. Nodier (gest. 1844), J. ^[Joseph] de Maistre (gest. 1821), Royer-Collard (gest. 1845) u. a. Aber die alte Gewohnheit und die realen Verhältnisse waren noch zu mächtig; fast schien es, als ob der jungen Pflanze ein langes Leben nicht beschieden wäre.

Heftigen Widerstand fand dieser Aufschwung der französischen Litteratur in dem neugeschaffenen Kaiserreich. Der despotischen Natur Napoleons, welcher über die Geister herrschen wollte wie über seine Höflinge und Soldaten, war jede freiere Ansicht und Geistesthätigkeit verhaßt; nur den "sciences exactes" ließ er Unterstützung zu teil werden. Der ewige Waffenlärm, der rastlose Siegestaumel der französischen Adler verscheuchte die wahre Poesie; überdies sorgte das straffe Regiment der kaiserlichen Zensur dafür, daß die geduldeten Erzeugnisse der Musen immer verwässerter und inhaltleerer wurden. Chateaubriand unternahm damals seine Reise nach Jerusalem und blieb dann grollend dem Hofe fern; Frau v. Staël wurde mit strenger Verbannung bestraft, ihr Buch über Deutschland eingestampft. Dagegen alles, was sich in den ausgetretenen Geleisen der klassischen Dichtung bewegte, die Anhänger Voltaires, die sogen. "Klassiker der Décadence", hielten ihr Haupt hoch; noch war Delille, der Meister der beschreibenden Poesie, einer der ersten Sterne am dichterischen Himmel; noch glänzten L. Fontanes (gest. 1821), der elegante und korrekte akademische Redner, einer der einflußreichsten Männer des Kaiserreichs, Esménard, Boisjolin, Gudin, Campenon u. a., deren Gedichte längst vergessen sind. Denn nicht poetische Begeisterung machte damals den Dichter, sondern die genaue Kenntnis der poetischen Form, ausgebreitete Lektüre und ein eleganter Stil, Vorzüge, durch welche die prosaischten Themata in vielbewunderte Gedichte umgewandelt wurden. Naturgemäß beschränkte sich diese handwerksmäßige Kunst nicht auf die beschreibende Dichtung; Epos, Lyrik und Drama erstarrten ebenfalls bei dem Mangel an Inhalt und wahrem Gefühl. So sind die meisten heroischen Gedichte jener Zeit ("Charlemagne" von d'Arlincourt, "Achille à Scyros" von Luce de Lancival etc.) bloß gereimte Speichelleckerei auf den Imperator, und nur "Philippe-Auguste" von Parseval