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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gymnasium

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Gymnasium (geschichtliche Entwickelung in Deutschland).

rück, namentlich zu Cicero, und erstrebte klassische Reinheit der Latinität in Wort und Schrift; das Griechische, im Abendland damals beinahe unbekannt, und bald auch die Anfangsgründe des Hebräischen wurden, jenes durch Hegius, diese besonders durch Reuchlin, eingeführt; auch der sachlichen Bildung der Alten in Physik, Mathematik etc., über welche die Wissenschaft damals noch nicht hinausgewachsen war, geschah ihr Recht. Im Vordergrund der Bewegung standen bald nach 1500 als anerkannte Häupter Desiderius Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin, genannt Kapnio, in Pforzheim. Durchgreifende Kraft erhielt der Umschwung jedoch erst dann, als an die Stelle der vorsichtigen Parteinahme dieser Männer für die kirchliche Reform im jüngern Geschlecht der deutschen Humanisten begeisterte Hingabe an Luther und sein Werk trat. Luthers erklärte Wertschätzung der Sprachen als der Scheide, in der das Schwert des Geistes steckt (Brief an die Ratsherren deutscher Städte, 1524), und des Pommern Johannes Bugenhagen ordnende Thätigkeit in einer Reihe vornehmer norddeutscher Städte waren hierbei von wesentlichem Einfluß. Vor allem aber gab beider Freund Philipp Schwarzerd, genannt Melanchthon, schon von seinem Jünglingsalter an als praeceptor Germaniae den deutschen Gymnasien Gesetze und drückte ihnen für Menschenalter durch seinen Schulplan von 1528 (im Visitationsbüchlein) und eine Anzahl Lehrbücher seines Geistes Stempel auf. Unter seinen Freunden und Schülern, den praktischen Schulmännern Joachim Camerarius (1500-1574) in Nürnberg, der jedoch bald zum akademischen Lehrstuhl überging, Valentin Friedland von Trotzendorf (1490-1556) in Goldberg, Johannes Sturm (1507-89) in Straßburg, Michael Neander (1525 bis 1595) in Ilfeld u. a., stand das deutsche humanistische G. bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus in höchster Blüte. Das hingebende Studium der Alten, die noch mit Recht als Lehrmeister auch der Sachen gelten konnten, die Nachahmung ihrer unvergleichlichen Weise zu reden, aber beides in den freien Dienst des wieder erweckten Evangeliums und seiner sittlichen Grundansicht gestellt, das war das Ideal jener vielbewunderten und in ihrer Art wirklich klassischen Schulmeister. Aber schon wenige Jahrzehnte später war das Vertrauen zu dem einseitig gelehrten G. wesentlich erschüttert. Die strenge Ausschließung der Muttersprache vom Lehrplan, ja vom Umgang der Lehrer und Schüler war von vornherein seine schwache Seite, und die Beschränkung auf das Wissensgebiet der Alten wurde immer mehr unnatürlich, je mehr die Keime einer neuen wissenschaftlichen Forschung erstarkten. Während in dem humanistischen Kreise selbst das vordem so frische Leben zu totem Wortkram erstarrte, erhob sich, durch ausländische Einflüsse gestärkt (Rabelais, Montaigne, Bacon), bald nach 1600 lebhafter Widerspruch gegen den Verbalismus. Die neue Richtung des pädagogischen Realismus trat auf den Schauplatz. Sie fand begabte Wortführer in Wolfgang Ratichius (Ratke, 1571-1635) und Joh. Amos Comenius (1591-1671). Aber beide waren glücklicher in der Kritik und in der Aufstellung einiger wichtiger pädagogischer Grundsätze (Ausgehen von der Anschauung, Pflege der Muttersprache etc.) als in der praktischen Ausführung ihrer Ansichten. Die Grundform des humanistischen Gymnasiums blieb daher bestehen, wenn auch allmählich eine bescheidene Pflege des Deutschen, hier und da das Französische und mancherlei Realistisches eindrangen und dafür das Griechische zurücktrat.

Als eine besondere Abart des humanistischen Gymnasiums muß das Kollegium der Jesuiten bezeichnet werden, indem die "Ratio atque institutio studiorum" (1599) sich eng an die Schulordnung von J. ^[Johannes] Sturm in Straßburg anschloß. Schon die Namen der sechs Klassen ihrer studia inferiora, d. h. des Gymnasiums, zeigen diese Art an; sie heißen, von unten begonnen: Principia, Rudimentum, Grammatica, Syntaxis, Poetica oder Humanitas, Rhetorica und sind mit Ausnahme der zweijährigen Rhetorik auf je ein Jahr berechnet. Auch bei den Jesuiten tritt das Griechische hinter dem Lateinischen zurück und die "Erudition", das Wissen von der äußern Welt, beschränkt sich auf eine nach dem kirchlichen Zweck der Gesellschaft getroffene und sehr begrenzte Auswahl aus den Realien. An die Stelle der alten Komödien des Terenz, der Gespräche Lukians u. a., welche die Humanisten lesen und wohl auch aufführen ließen, traten bei den Jesuiten vielfach religiöse, namentlich allegorische, Schauspiele, und auch hierin berühren sich ihre Anstalten mit dem protestantischen G. des 17. Jahrh.

In den protestantischen Gymnasien Deutschlands machten die Neuerungen seit dem Westfälischen Frieden sich immer mehr geltend und drohten, allmählich die Einheit des Lehrplans und damit die Sicherheit der Ergebnisse völlig zu untergraben. Da kam neues Leben aus der tiefern religiösen Erregung des pietistischen Kreises, dessen Häupter, vor allen A. H. Francke, warme Freunde der Schule waren. Da auf der einen Seite die alten Sprachen des theologischen Studiums wegen unentbehrlich blieben, auf der andern Seite der Pietismus das wirkliche Leben und seine Anforderungen gegenüber der kühlen Gelehrsamkeit begünstigte, erwachte zuerst in diesem Kreis eine klarere Überzeugung von der Berechtigung einer zwiefachen höhern Jugendbildung, der humanistischen, auf die alten Sprachen begründeten für diejenigen, welche sich einer gelehrten Laufbahn widmen wollen, und der realistischen für Adel und Bürgerstand, deren Lebensaufgabe mehr unmittelbar in dem Leben der Gegenwart liegt. Man errichtete an den Gymnasien Bürgerklassen für die, welche "unlateinisch" oder wenigstens ungriechisch bleiben, d. h. nicht studieren, wollten, und bald auch gesonderte Realschulen, wie die von Chr. Semler in Halle (gest. 1740) und von J. J. ^[Johann Julius] Hecker in Berlin. Einem ähnlichen, obzwar auf ganz andern Voraussetzungen begründeten Bedürfnis sollten die in jener Zeit aufkommenden Ritterakademien, höhere Schulen für junge Adlige, abhelfen. Wurde in den Realschulen mehr die "mathematische, mechanisch-technologische und ökonomische" Seite betont und in den Ritterakademien mehr das Studium der lebenden Sprachen und die körperliche Erziehung, so standen beide doch als moderne Bildungsanstalten dem altklassischen G. gegenüber. Übrigens sind die wenigen bis heute erhaltenen Ritterakademien später dem G. wieder angenähert oder, wie in Preußen, ganz in dasselbe zurückgebildet worden.

Mit der Entstehung besonderer Realschulen (s. d.), deren weitere Entwickelung hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann, war vom G. die Gefahr einer Entfernung von dem im 16. Jahrh. gelegten Grund abgewandt. Aber schon war ein gewisser Abfall von den Grundsätzen des Humanismus eingetreten, indem das Griechische sehr zurückgedrängt war und in beiden alten Sprachen statt der besten Schriften des klassischen Altertums das Neue Testament und spätlateinische kirchliche Lehrschriften zur Lesung kamen.