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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Herder

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Herder.

an seinem Grab errichtet" (das. 1768) und den "Kritischen Wäldern" (das. 1769) seine große litterarische Laufbahn. Mit den Sätzen der "Litteratur-Fragmente", daß die litterarischen Erzeugnisse aller Nationen durch den besondern Genius der Volksart- und Sprache bedingt sind, daß darum die Nachahmung keiner fremden Litteratur die deutsche fördern könne, mit der Polemik gegen das schon lange andauernde Übergewicht der lateinischen Sprache und Litteratur hatte H. seine selbständige Stellung in dem großen Kampf der Zeit genommen. Die Angriffe gegen die seichte und verächtliche Clique der Klotzianer waren nur Konsequenzen seiner Anschauungen. Gleichwohl hatte sich H. Klotz und den Seinen gegenüber Blößen namentlich durch die Ableugnung der Autorschaft der "Kritischen Wälder" gegeben und ward, wie im spätern Leben noch oft, in ärgerliche Händel verwickelt, die ihm selbst das Behagen an seiner sonst so günstigen Stellung in Riga verleideten. Starker Reisedrang und das Verlangen, sich für eine künftige große Wirksamkeit (welche er sich mehr als eine praktische denn als eine litterarische dachte) allseitig vorzubereiten, veranlaßten H., im Frühling 1769 seine Entlassung zu begehren, die man ihm gewährte in der Hoffnung, daß er zurückkehren werde. Mit Beihilfe einiger nächster Freunde, namentlich seines Verlegers Hartknoch, trat er im Juni d. J. eine große Reise an, die ihn zunächst zu Schiff nach Nantes führte, von wo er im November nach Paris ging. Weil er sich rasch überzeugen mußte, daß es nicht möglich sein werde, mehrjährige Reisen nur mit Unterstützung seiner Freunde durchzuführen, war ihm der Antrag des fürstbischöflich lübeckischen Hofs zu Eutin, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm als Reiseprediger zu begleiten, ganz willkommen. Anfang 1770 kam er nach Eutin und brach im Juli d. J. von dort mit dem Prinzen auf. Noch vor der Abreise hatte ihn ein Ruf des Grafen Wilhelm von Lippe in Bückeburg erreicht; gleich darauf lernte H. in Darmstadt seine nachmalige Gattin, Marie Karoline Flachsland (geb. 28. Jan. 1750 zu Reichenweier im Elsaß), kennen. Eine rasch gefaßte und erwiderte Neigung nährte in H. den Wunsch nach festen Lebensverhältnissen. Er folgte dem Prinzen nur bis Straßburg, begehrte vom eutinischen Hof seine (im Oktober gewährte) Entlassung, nahm die vom Grafen zur Lippe angetragene Stellung als Hauptprediger der kleinen Residenz Bückeburg und als Konsistorialrat an, blieb aber dann um einer (leider mißglückten) Augenoperation willen den Winter in Straßburg und knüpfte hier die freundschaftlichen Beziehungen zu dem um fünf Jahre jüngern Goethe an. Ende April 1771 trat H. seine neue Stellung in Bückeburg an. Sein Verhältnis zu dem Landesherrn des kleinen Ländchens, dem berühmten Feldherrn Grafen Wilhelm, ward bei aller Achtung, die der durch und durch soldatische und an keinen Widerspruch gewöhnte Fürst ihm zollte, kein erfreuliches. Auch als Graf Wilhelms Gemahlin, die liebenswürdige fromme Gräfin Maria, sich H. in herzlicher Verehrung anschloß, betrachtete dieser den Aufenthalt in Bückeburg als ein Exil. Verschönert ward ihm dasselbe durch die treue Liebe seiner jungen Gattin, nachdem er im Mai 1773 Karoline Flachsland heimgeführt; resultatreich gemacht durch seine Studien und Arbeiten. Die Zeit des Bückeburger Aufenthalts war für H. die eigentliche Sturm- und Drangperiode. Mit der geistvollen, von der Berliner Akademie preisgekrönten Abhandlung "Über den Ursprung der Sprache" (Berl. 1772), die er noch in Straßburg begonnen, eröffnete er die lange Reihe der verschiedenartigsten Schriften, durch welche er bahnbrechend und pfadzeigend für die junge Litteratur ward, und in denen die Phantasie nicht bloß berechtigtermaßen das erste, sondern manchmal auch das letzte Wort hatte. Mit den beiden Aufsätzen über "Ossian und die Lieder alter Völker" und über "Shakespeare" in den fliegenden Blättern "Von deutscher Art und Kunst" (Hamb. 1773) und der Schrift "Ursache des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblüht" trat er in den Mittelpunkt der Bewegung, welche eine aus dem Leben stammende und auf das Leben wirkende, echte Natur atmende Dichtung wiedergewinnen wollte. Mit der Schrift "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" (o. O. [Riga] 1774) erklärte er der prahlerischen und öden Aufklärungsbildung des Jahrhunderts den Krieg. Rief schon diese Arbeit die entschiedensten Widersprüche, ja Herabsetzungen und Verlästerungen Herders hervor, so war dies in noch höherm Grade der Fall bei Herders theologischen und halbtheologischen Schriften, der "Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts" (Riga 1774-76, 4 Tle.), den "Briefen zweener Brüder Jesu in unserm Kanon" (Lemgo 1775), den "Erläuterungen zum Neuen Testament, aus einer neueröffneten morgenländischen Quelle" (Riga 1775) und den 15 Provinzialblättern "An Prediger" (Leipz. 1774). Die Angriffe, die er erfuhr, veranlaßten ihn, seine schon zum Druck vorbereitete Sammlung der "Volkslieder" zurückzuhalten. Sie brachen ihm den Entschluß des Weiterwirkens nicht, aber sie steigerten eine hypochondrische Reizbarkeit und ein dämonisches Mißtrauen, welche in Herders Seele früh erwacht waren. H. verhandelte eben wegen einer Berufung an die Universität Göttingen (wo man ihm ein Kolloquium zur Prüfung seiner angezweifelten Orthodoxie auferlegen wollte), als ihm durch Goethes freundschaftliche Bemühungen im Frühjahr 1776 die Vokation als Generalsuperintendent, Mitglied des Oberkonsistoriums und erster Prediger an der Stadtkirche zu Weimar zu teil ward. Sein Weggehen von Bückeburg folgte dem Tod seiner Gönnerin, der Gräfin Maria, fast auf dem Fuß. Am 2. Okt. 1776 traf H., der besten Erwartungen und des besten Willens voll, in Weimar ein. Da aber gleich im Beginn seiner Wirksamkeit ein Versuch gemacht wurde, ihm seine eigentliche Gemeinde zu entziehen, und H. nur durch die tapfere Erklärung, unter solchen Umständen lieber auf den Antritt seines Amtes verzichten zu wollen, das Feld behauptete, so war auch hier von Haus aus ein Argwohn und bitteres Gefühl wachgerufen. Herders amtliche Stellung wie persönliche Natur verboten ihm, an dem rauschenden Karneval in den ersten Regierungsjahren Karl Augusts Anteil zu nehmen. Obschon er rühmte: "Ich bin hier allgemein beliebt, bei Hofe, Volk und Großen, der Beifall geht ins Überspannte. Ich lebe im Strudel meiner Geschäfte einsam und zurückgezogener, als ich in Bückeburg nur je gelebt habe", so blieben Mißhelligkeiten nicht aus. Da H. wahrzunehmen glaubte, daß in dem engern Kreis des Herzogs eine gründliche Gleichgültigkeit, ja verächtliche Geringschätzung gegen Kirche und Schule vorherrsche, vertrat er nicht nur, was sein gutes Recht war, deren Interessen aufs kräftigste und eifrigste, sondern setzte sich in Opposition gegen nahezu alle Meinungen, Richtungen und Neigungen jenes Kreises, und so gewiß Weimar eine große Verbesserung Bückeburg gegenüber heißen durfte, so fühlte sich H. von der Kleinlichkeit und Enge auch vieler weimarischer Verhältnisse gedruckt. Dennoch wirkte die ver-^[folgende Seite]