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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kaschmir

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Kaschmir.

Höhe ihre Grenze finden. Haine von Pappeln, Kirsch-, Walnuß-, Pfirsich-, Aprikosen-, Apfel- und Maulbeerbäumen säumen die Flußläufe ein; der Duft von Rosen, Jasmin und Hunderten von wilden Blumen dringt allerwärts entgegen. Reis-, Getreide- und allerlei Gemüsefelder wechseln mit grünen Wiesen ab; Weinreben bedecken die Abhänge bis zu 2700 m, südeuropäische Rebsorten wurden 1884 eingeführt, und jetzt ist auch das Keltern von Wein versucht worden. An Wild aller Art ist K. überreich. In den höhern Lagen finden sich die Gazelle, das Moschustier, der Steinbock, der Wolf und der schwarze und braune Bär; in den Umgebungen der Seen ist die Wasserjagd wie der Fischfang sehr lohnend. Der Aufzucht der Haustiere, worunter das Hornvieh durch den Yak vertreten ist, wird große Sorgfalt geschenkt. Dennoch hat K. wiederholt von Hungersnot zu leiden gehabt, zuletzt 1878-80, wo bei Hinzutreten der Cholera die Sterblichkeit eine außerordentliche war.

Die Bevölkerung, meist von hohem und starkem Körperbau, regelmäßigen, bei den Mohammedanern jüdischen Gesichtszügen und heller Hautfarbe, besteht der Mehrzahl nach aus arischen Einwanderern, welche das Thal von K. von W. her über Baramula schon im 2. Jahrtausend v. Chr. besiedelt hatten; im äußern Himalaja sitzen aber noch Reste der vorarischen wie der später in das indische Pandschab eingedrungenen türkischen Völker (vgl. A. Cunningham, Archaeological Survey of India, Bd. 2, Kalk. 1871). Die Sprache ist im Thal von K. Kaschmiri, im äußern Himalaja Dogra, beides Töchtersprachen des Sanskrits, letzteres jedoch dem modernen Hindi verwandter als ersteres. Dem Charakter der Bewohner wird wenig Gutes nachgerühmt, eine Folge der jahrhundertelangen schlechten Verwaltung. Der Religion nach sind sechs Zehntel Mohammedaner (größtenteils Sunniten), der Rest Hindu. Ihre Kleidung besteht in Beinkleidern und einem wollenen Umhang; in der Kälte führen sie Kohlenbecken mit sich. In den nördlichen Provinzen ist Produktion und Lebensweise ganz tibetisch (s. Tibet), eigentümlich ist dagegen das Leben im Thal von K. Hier werden die weltberühmten Kaschmirshawls gewebt, zu denen teils die Haare (und zwar die Unterhaare) der zahmen Kaschmirziege, teils die der wilden Ziegen Tibets den Stoff liefern (s. Shawl). Die Arbeit ist fabrikmäßig verteilt; an einem gewöhnlichen Shawl arbeiten drei Weber drei Monate, an einem kostbarern 1½ Jahr. Diese weltberühmte Fabrikation hat zwar in den letzten Jahren, infolge des zuerst durch die Belagerung von Paris beschränkten Absatzes, dann durch Veränderung der Geschmacksrichtung, große Rückschritte gemacht; gleichwohl beträgt der Export noch immer 130,000 Pfd. Sterl., wovon Europa für 90,000 Pfd. Sterl. empfängt. Andre Fabrikate sind Teppiche, Rosenöl, Wollzeuge, Seidenwaren (eine Fabrik besteht in Srinagar), Papier, Papiermaché, Silber-, Gold- und Steinwaren; dagegen hat die früher berühmte Fabrikation von Flinten- und Pistolenläufen und Schwertern bedeutend abgenommen. Das Land ist den Fremden sowie dem Handel geöffnet. Letzterer richtet sich vornehmlich nach dem Pandschab, Afghanistan, Zentralasien. In Indien ist Amritsar der Hauptmarkt für die Produkte Kaschmirs; 1883-84 wertete der Export (Shawls, getrocknete Früchte, Moschus, Borax u. a.) nach dem Pandschab 529,013, der Import von dort (europäische Gewebe, Eisenwaren, indische Spezereien) 372,591 Pfd. Sterl., der Transithandel zwischen Britisch-Indien und Jarkand 52,781 Pfd. Sterl. Seit 1870 sind die Transitzölle abgeschafft, wogegen Shawls und andre Webwaren Britisch-Indien zollfrei passieren. Beamte der britischen Regierung sind in Leh und Srinagar stationiert. Die durch Bauten vielfach verbesserten Hauptstraßen zwischen K. und Indien führen von Srinagar über den Banihalpaß nach Dschamu und Amritsar (die beiden letzten Orte verbindet sogar eine gute Chaussee), über den Pir Pandschab und Bhimbar nach Gudscharat, ebenso über Akhnur und den Budilpaß und endlich von Srinagar nach Peschawar über Baramula, Muzaffarabad und Manserat. Der Telegraph verbindet Srinagar und Dschamu mit Sialkot im Pandschab, und eine Eisenbahn von letzterm nach Dschamu ist geplant. Seit 1871 wird auf Anregung des Landesfürsten eine Jahresmesse in Dschamuab gehalten, wobei von demselben gestiftete Preise zur Verteilung kommen. Das umlaufende Silbergeld ist teils ältern Datums und infolge vielfacher Verfälschung nur 8 Annas wert, teils unter dem jetzigen Herrscher geprägt = 10 Annas (1 Schilling). Der Fürst, mit dem Titel Maharadscha, ist unumschränkter Herrscher, hat aber einen Tribut an die britische Regierung zu zahlen (s. unten). Früher stand K. in politischer Verbindung mit dem Pandschab, jetzt ist es dem Generalgouverneur von Indien unterstellt. Die Einkünfte (1876: 807,578 Pfd. Sterl.) bestehen meist in Abgaben von Grund und Boden, dessen ausschließlicher Herr der Fürst ist. Zu Verwaltungszwecken ist K. in 2 Provinzen (K. und Dschamu mit zusammen 11 Kreisen) und 3 äußere Gouvernements (Gilgit, Baltistan, Ladak) geteilt, und die Regierung erfolgt nach englisch-indischen Grundsätzen. Oberster Richter ist der Maharadscha; ein Strafgesetzbuch ist nach dem Muster des britisch-indischen abgefaßt. Politische Verbrecher und zu lebenslänglichem Gefängnis Verurteilte werden nach der Grenzfestung Bhundschi verbannt; die übrigen Verbrecher verbüßen ihre Strafe in Hatbak am Dalsee. Das wenig brauchbare Heer zählt 1393 Mann Kavallerie, 18,436 Mann Infanterie und 96 Geschütze. Volksschulen sind seit alter Zeit in den Dörfern vorhanden und leisten gute Dienste; auch für höhere Schulen ist in den letzten Jahren etwas geschehen, und eine Summe von 3000 Pfd. Sterl. ist ausgesetzt zur Übersetzung und Veröffentlichung von europäischen wissenschaftlichen Werken sowie von solchen in der arabischen und Sanskritsprache. In neuester Zeit wurden auch Krankenhäuser und Apotheken errichtet. Der erste Verwaltungsbericht nach englischem Muster erschien 1873 in Srinagar. Die Hauptorte sind: Dschamu, die Hauptstadt, Srinagar, die Sommerresidenz, Islamabad, der Endpunkt der Schiffbarkeit des obern Dschelam, und Leh, Handelsentrepot zwischen Indien und Jarkand. S. Karte "Ostindien".

Geschichte. Vor Erforschung der Sanskritlitteratur der alten Inder hatte man in K. das Paradies, später die Wiege des Menschengeschlechts gesucht; seither wissen wir, daß dieses schöne Gebirgsland von den Ariern (s. d.) bald nach ihrer Einwanderung in das Pandschab in Besitz und Kultur genommen wurde. Die historischen Überlieferungen gehen weiter zurück als in andern Teilen Indiens, reichen aber über den großen Kampf (s. Mahâbhârata) nicht hinaus; es hat sich zwar eine dunkle Erinnerung an 52 ältere Könige erhalten, chronologisch können wir aber die Landesgeschichte nur bis 1182 v. Chr. zurück verfolgen. In der ältesten Zeit treten uns die Bewohner als Naturkinder entgegen, die Verehrung der Schlangen wird uns als wichtigste Eigentümlichkeit überliefert. Mitte des 7. Jahrh. bemächtigten sich Brahmanen von Gandhara (aus den Umgebungen von