Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kleinrussische Sprache und Litteratur

830

Kleinrussische Sprache und Litteratur.

Buchdruckereien zu gründen sowie eine Art Gerichtsbarkeit, über die pflichtvergessene Geistlichkeit auszuüben. Infolge ihrer Fürsorge entstanden Schulen in Ostlog, Lwow (Lemberg), Wilna, Kiew, Brest, Minsk und in andern Städten. Einen Aufschwung erhielt jedoch das geistige Leben in Kleinrußland erst, als der kiewsche Metropolit Peter Mohyla (Mogila, 1632) ein höheres Lehrinstitut, das sogen. Kollegium, nach dem Vorbild der Krakauer Akademie mit lateinischer Unterrichtssprache errichtete und damit die westeuropäische Kultur in Kiew einführte. Namentlich hielt man im Kollegium die mittelalterliche scholastische Gelehrsamkeit in hohen Ehren, weil man durch sie die jesuitische Propaganda in Südrußland erfolgreich zu bekämpfen hoffte. Unter den Schriftstellern, welche diese neue Richtung verfolgten, ist besonders Joannicius Galatowskij zu nennen, der nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch gegen Juden, Mohammedaner, Heiden und fast sämtliche Häretiker mit der Feder zu Felde zog. Kiewsche Gelehrte, wie Epiphanius Slawyneckij, Demetrius Rostowskij u. a., haben hierauf die abendländische Kultur in das Großfürstentum Moskau verpflanzt, welches bisher in starrer Abgeschlossenheit verharrte und sich von jeglichen Neuerungen im Kirchen- und Staatsleben fern hielt. Der Einfluß der abendländischen Geistesrichtung zeigte sich auch bald in der Abfassung von dramatischen Mysterien und Krippenliedern. Gleichwohl erhielten die Mysterien im sogen. Intermezzo eine nationale Färbung, und die dramatisierten Krippenlieder lehnten sich nach und nach an die Weise der Volkspoesie an. Ein weiteres Kennzeichen dieser damals aufkommenden Bildung und Gelehrsamkeit ist darin zu erblicken, daß einige schriftgelehrte Kosaken geschichtliche Annalen vom Standpunkt des kleinrussischen Patriotismus verfaßten. So schrieb zunächst im 17. Jahrh. ein Anonymus, der sich Samowydec ("Augenzeuge") nannte, Annalen über Chmelnizkijs Befreiungskrieg sowie über die Fehden, welche in Kleinrußland nach dessen Tod fortdauerten. Im Anfang des 18. Jahrh. beschrieben ebenfalls zwei Kosaken, Gregor Hrabjanka und Samuel Welyczko (Velicko), dieselben Kriege. Dennoch konnte sich weder in den mit Rußland vereinigten noch in den bei Polen verbliebenen Gebieten Kleinrußlands die heimatliche Litteratur frei entwickeln. Russisch und Polnisch waren die einzig berechtigten Sprachen, nur ihrer durfte man sich während des 18. Jahrh. in der Schrift bedienen. Die 20 Millionen betragende Seelenzahl der Kleinrussen wurde von Staats wegen zum geistigen Tod verurteilt, und demzufolge war die kleinrussische Sprache nur ein Gemeingut des in Leibeigenschaft schmachtenden gemeinen Volkes.

Dieser Zustand dauerte, bis Ende des 18. Jahrh. die gegenwärtige dritte Periode der Litteratur begann, die mit der allgemeinen Wiederbelebung des Slawentums und dem Aufkommen der Volkslitteraturen zusammenfällt. Iwan Kotlarewskij (1769 bis 1838) war es, welcher die schöne, wohlklingende Volkssprache der Ukraine zur Schriftsprache zu erheben wagte. Er schrieb die travestierte "Äneide" und zwei dramatische Sittenbilder: "Natalka Poltawka" ("Natalie von Poltawa") und "Moskal czariwnyk" ("Der Soldat als Zauberer"). Nächst ihm förderte die Hebung des tief gesunkenen Volkes der geniale Gregor Kwitka, pseudonym Osnowjanenko (1778 bis 1843). Er schilderte in seinen 14 Erzählungen, unter denen namentlich der Roman "Marusja" ausgezeichnet ist, das Naturleben der Landbewohner, eine den höhern Ständen unbekannte ideale Welt. Seiner Richtung gehört auch Marko Wowczok (Pseudonym der Marie Markowycz) an. Während die genannten Schriftsteller durch populäre Schilderung der sozialen Zustände ihre Landsleute moralisch zu heben trachteten, feierte der größte kleinrussische Dichter, Taras Szewczenko (Schewtschenko, 1814-61), als abgesagter Feind der Tyrannei und des Despotismus Freiheit und Aufklärung auf nationaler Grundlage und verfocht die erhabensten Ideen der Vaterlandsliebe. Demnächst erschien eine ganze Reihe namhafter Schriftsteller, unter denen der Dichter und Geschichtschreiber Kulisz (geb. 1819) und die Novellisten Iwan Lewickij (geb. 1838) und Al. Koniskij (geb. 1836) den ersten Rang einnehmen. Doch diese seit 1860 beginnende segensreiche Wirksamkeit zu gunsten der vaterländischen Aufklärung in Kleinrußland wurde von der russischen Regierung kraft einer kaiserlichen Verordnung (Mai 1876) gewaltsam niedergeschlagen und streng untersagt; somit ist gegenwärtig die Weiterentwickelung der kleinrussischen Litteratur auf Galizien angewiesen. Hier behauptet Marcian Szaszkewycz (Schaschkewitsch, 1811-43) im litterarischen Leben dieselbe Stellung, welche Iwan Kotlarewskij in der Ukraine eingenommen hat. Im Verein mit Jak. Holowackij (Golowatzkij) und Iwan Wahylewycz (Wagilewitsch) gab er in Ofen (1837) den ruthenischen Almanach "Rusalka Dnistrowaja" heraus und erhob hierdurch die Volkssprache zur Schriftsprache. Die begeisterten lyrischen Dichtungen Szaszkewyczs verklangen in Galizien zunächst spurlos, bis 1848 das Aufkommen des Nationalitätprinzips in Österreich auch das Aufleben der ruthenischen Litteratur veranlaßte. Es zeichneten sich Nikolaus Ustyjanowycz (1811-85) als lyrischer und Anton Mohylnyckij (Mogilnitzkij, 1811-73) als epischer Dichter ("Skyt Manjawskij") aus. Auch Prosaschriftsteller in verschiedenen Fächern der Wissenschaft sowie in der Belletristik traten auf. So hat Isidor Szaranewycz auf dem Gebiet der vaterländischen Geschichte viele gediegene Quellenstudien geliefert, A. Barwinskij eine Reihe von populären Geschichtswerken, I. ^[Ivan] Werchratskij, der außerdem Dichter und Kenner des kleinrussischen Sprachschatzes ist, mehrere naturgeschichtliche Werke und Aufsätze. E. Partyckij hat sich namentlich durch Herausgabe der litterarischen Zeitschrift "Zorja" (1880-85) verdient gemacht; nebenbei war er, wie auch Eugen Zelechowskij, als Lexikograph thätig (s. oben). Basil Ilnyckij schrieb Novellen und populäre geschichtliche Erzählungen, Kornilo Ustyjanowycz (geb. 1840) schöne epische und dramatische Gedichte, Gregor Hryhorjewycz (Ceglinskij) gute Lustspiele. Zur Förderung der Volksaufklärung trägt viel der 1868 gestiftete Verein Proswita bei, seit 1877 unter Leitung E. Ogonowskijs, der außer mehreren populären Schriften auch wissenschaftliche Werke, namentlich einen Kommentar zum "Igorlied" (1876) und Studien über ruthenische Sprache, veröffentlicht hat. - In der von Rumänen stark durchsetzten Bukowina traten zwei Dichter auf: Joseph Fedkowycz (Fedkowitsch) und Danilo Mlaka (Isidor Worobkewycz). Des erstern zwischen 1860 und 1862 geschriebene Gedichte zeichnen sich durch hohen poetischen Schwung sowie durch kraftvolle Sprache aus; seine Novellen sind originell und volkstümlich.

Die reiche und anziehende kleinrussische Volkspoesie ist heute Gegenstand einer allgemeinen Bewunderung. Zu den ältesten Produkten derselben gehören die sogen. Weihnachtslieder (koladky), in de-^[folgende Seite]