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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Tscherkessen

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Tscherkessen (Geschichte).

medaner anzusehen, bei dem Volk haben sich sowohl christliche Gebräuche als zahlreiche Spuren des alten Heidentums erhalten. Die Richter, die Ältesten des Stammes, urteilen in Ermangelung geschriebener Gesetze, da die T. keine Schriftzeichen besitzen, nach dem Herkommen. Für den Verurteilten ist der ganze Stamm verantwortlich. Der einzige Fall, in welchem ein Gericht auf Tod erkennen kann, ist offener oder geheimer Dienst beim Feinde; doch auch da begnügt man sich meist mit einer hohen Geldstrafe. Dagegen kostet die Blutrache alljährlich vielen T. das Leben, da dieselbe an dem ganzen Stamm des Beleidigers ausgeübt wird. Die Sprache der T., selbständig für sich dastehend, ist kenntlich an vielen Gurgeltönen, reich, zur Poesie geeignet und zerfällt in einen nördlichen (Abesech) und südlichen (Ubuch) Dialekt (s. Kaukasische Sprachen). Sie haben Sänger (Kikoakoa), welche in hohem Ansehen stehen. Vgl. L'Huilier, Russisch-tscherkessisches Wörterbuch und Grammatik (Odessa 1846); Löwe, Circassian dictionary (Lond. 1854). Seit der Einführung des Korans hat die arabische Sprache sich bedeutend ausgebreitet, und in ihr werden auch die Dokumente ausgestellt. Die Verfassung ist eine feudal-aristokratische; die Bevölkerung teilt sich in vier Stände: Pschi (Fürsten), Work oder Elsden (Ritter), Tfokol oder Waguscheh (Freie) und Pschitli (Sklaven). Von den Pschi sollen im Lande der Adighe nur noch vier, aber gliederreiche Familien vorhanden sein; die Work sollen noch einige hundert Höfe besitzen. Die Pschitli sind die Nachkommen kriegsgefangener Frauen und Kinder sowie solcher Adighe, welche durch Richterspruch zur Sklaverei verurteilt wurden. Sie sind jetzt persönlich frei und haben nur einige Naturalabgaben, Fron- und Kriegsdienste zu leisten. Die Geistlichkeit kann man in zwei Klassen teilen; die erste davon ist die alte christlich-heidnische (Dschiur genannt), welche aber von der mohammedanischen Geistlichkeit mehr und mehr verdrängt wird. Die Männer gehen stets bewaffnet und zwar mit Flinte, Säbel, Pistole und Dolchmesser. Eigentümlich sind die auf der Brust getragenen orgelpfeifenähnlichen Patronenhülsen. Die Hauptcharakterzüge des Volkes sind: Anhänglichkeit an die Familie, Tapferkeit, Entschlossenheit, Gastfreiheit, Ehrfurcht vor dem Alter und Gemeinsinn, aber auch Leichtsinn, Roheit, Habgier, Neigung zur Dieberei und namentlich Lügenhaftigkeit. Der Hausvater ist auf seinem Gehöft unumschränkter Herr; die Söhne bleiben, solange er lebt, ihm zur Seite; der älteste Sohn wird Erbe des Hofs und des größern Teils der beweglichen Habe. Das Heiraten geschieht nach freier Wahl, und zwar wird das Mädchen aus dem elterlichen Haus heimlich entführt und erst später nach der Hochzeit der vereinbarte Preis vom Mann bezahlt. Die Stellung der Frauen ist nicht die sklavische wie sonst im Morgenland. Das Mädchen wird früh in weiblichen Handarbeiten, Nähen, Stricken etc., geübt und tummelt sich als Jungfrau mit den Brüdern und Vettern im Gehöft umher, lernt den Bogen spannen und das Roß lenken. Diese Selbständigkeit verhindert aber nicht, daß Mädchen von den eignen Eltern verkauft werden, um in türkischen Harems eine mehr oder minder glanzvolle Rolle zu spielen. Vgl. Kaukasien.

[Geschichte.] Schon im Altertum traten die T. unter dem Namen der Sychen als Seeräuber auf. Im 13. Jahrh. wurden sie von den georgischen Königen unterworfen und zum Christentum bekehrt, doch errangen sie 1424 ihre Unabhängigkeit wieder. Inzwischen hatten sie sich über die Ebenen am Asowschen Meer verbreitet und waren dadurch mit den Tataren in Konflikt geraten. Die Bedrückungen, welche sich der Chan der Krim gegen die Gebirgsstämme erlaubte, nötigten diese, sich 1555 dem russischen Zaren Iwan IV. Wasiljewitsch zu unterwerfen, der ihnen hierauf gegen die Tataren Hilfe leistete. Nach dem Abzug der russischen Truppen überzog Chan Schah Abbas Girai 1570 die Transkubaner mit Krieg, siedelte sie jenseit des Kuban an und zwang sie zur Annahme des Islam. 1600 kehrten sie in ihre alten Wohnsitze zurück; da sie aber von seiten der neuen Ansiedler Hindernisse fanden, zogen sie an den Fluß Bassan und drängten auf die Kabardiner. Daraus entstand ein innerer Krieg, und infolge dessen fand die Teilung des kabardinischen Volkes in die Große und Kleine Kabarda statt. Erst 1705 befreite ein entscheidender Sieg die T. von harter Bedrückung. Nach dem Frieden von Kütschük Kainardschi wurde 1774 Rußland Herr der beiden Kabarden. Seit 1802 Georgien eine russische Provinz geworden war, strebte Rußland, dessen Grenzen bereits bis an den Kuban vorgerückt waren, durch den Besitz des Kaukasus eine Verbindung zwischen jenem Land und Kaukasien herzustellen. 1807 nahmen die Russen Anapa, mußten es aber infolge des Friedens von Bukarest 1812 wieder räumen. Die Türken fanatisierten nun die T. immer mehr gegen die Russen, und die T. unternahmen von jetzt an fortwährend Einfälle ins russische Gebiet. 1824 leisteten sogar mehrere Stämme dem Sultan den Eid der Treue. Im russisch-türkischen Krieg von 1829 fiel Anapa jedoch abermals in die Hände der Russen, und im Frieden von Adrianopel kamen die türkischen Besitzungen auf dieser Küste überhaupt an Rußland. Seitdem begann die systematische Unterwerfung der Bergvölker, welche anfangs angriffsweise ins Werk gesetzt wurde, aber keinen Erfolg hatte. Man gab endlich die verderblichen Expeditionen in das Innere des Landes auf und beschränkte sich auf die Absperrung des Landes, reizte aber durch diese defensive Haltung die Unternehmungslust der Bergvölker. 1843 rief Schamil (s. d.), welcher schon seit 1839 die Tschetschenzen und andre östliche Gebirgsstämme zum Kampf gegen die Russen zu begeistern gewußt, auch die T. zur Erneuerung der Angriffe auf, so daß seitdem fast alle Bergvölker vereint gegen Rußland im Kampf begriffen waren. Nach dem Beginn des russisch-türkischen Kriegs von 1853 setzten Schamil und die übrigen Häuptlinge um so energischer den Kampf fort, als sie jetzt von den Türken unterstützt wurden. Nach dem Einlaufen der englisch-französischen Flotte ins Schwarze Meer (Januar 1854) waren die T. namentlich bei der Eroberung und Zerstörung der russischen Küstenforts eifrig mit thätig. Indes wirkte die Spaltung zwischen den Muriden Schamils und den übrigen Mohammedanern einem einheitlichen Handeln entgegen, und als 1856 Fürst Barjatinskij den Oberbefehl im Kaukasus übernahm, hatte er auf der lesghischen Seite nur noch vereinzelte Raubzüge zurückzuweisen. Die Russen besetzten nach und nach wieder die im Krieg verlassenen festen Punkte und setzten die Ausführung ihres Unterwerfungsplans gegen die Bergvölker durch Lichten der Wälder nicht ohne Erfolg fort. Anfang Juli 1857 schlug Fürst Orbeliani II. auf der Hochebene Schalatawia die Hauptmacht Schamils, der am 6. Sept. 1859 in seinem letzten Schlupfwinkel zur Unterwerfung gezwungen wurde. Damit war der Kampf in der Hauptsache beendet; er hatte der russischen Armee im ganzen ½ Mill. Menschen gekostet. Die T. wanderten in den nächsten Jahren in großen Scharen nach der