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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Volkscharte - Volkslied.

Volkscharte, s. Chartismus.

Volkseinkommen, s. Einkommen.

Volksetymologie, s. Etymologie.

Volksfeste, Feste, an deren Feier sich das Volk in irgend einer Weise selbstthätig beteiligt und ihnen dadurch einen volkstümlichen Charakter verleiht. Zu den lokalen Volksfesten, deren Feier auf einzelne Landschaften oder Ortschaften beschränkt ist, kann man auch solche Feste der verschiedenen Genossenschaften und Stände rechnen, in denen sich die Eigentümlichkeit des Volkes in irgend einer Weise ausspricht, und die deshalb auch allgemeinere Teilnahme außerhalb des Kreises der eigentlichen Festgeber gefunden haben. Die verbreitetsten V. haben sich besonders an regelmäßig wiederkehrende Ereignisse und Erscheinungen in der äußern Natur angeknüpft. So gab bei den verschiedensten Völkern der Wechsel der Jahreszeiten, das Ende des Winters und der Anbruch des Frühlings, der Sonnenlauf (s. Maifest, Johannisfest und Julfest), die Saat, die Ernte, die Weinlese u. dgl. zu Festen Veranlassung. Mehr auf einzelne Völker, ja auf Teile derselben beschränkt sind die V. oder Nationalfeste, welche zum Andenken an bedeutende geschichtliche Ereignisse begangen werden, wie der Guy Fawkes' Day in England, das Gedächtnisfest der Schlacht bei Leipzig, die Sedanfeier, die verschiedenen Konstitutions- und Unabhängigkeitsfeste, ferner diejenigen Feste, welche aus der Neigung des Volkes zu gewissen Thätigkeiten und Übungen hervorgegangen sind, wie die Kampfspiele der Alten, die Schwingfeste der Schweizer, die Stiergefechte der Spanier, die Wettrennen der Engländer, oder endlich auf gesellschaftlichen Einrichtungen beruhen, wie die Jahrmärkte, die Feste einzelner Zünfte und die aus dem Waffendienst der Bürger sich herschreibenden Vogel- und Scheibenschießen etc. Einen bedeutenden Einfluß hat auch die Religion auf die V. geäußert, und dieser war um so größer, je sinnlicher der Charakter der Religion war, je mehr sie das weltliche Leben des Volkes in ihr Gebiet zog, und je mehr sie durch bestimmte Satzungen oder auch durch ihre Geschichte und namentlich durch ihre Mythen Anhaltspunkte für festliche Feier bot. Dies ist der Grund, warum vornehmlich die heidnischen Religionen so reich an Festen waren, und warum die V. der christlichen Welt, die in mehr oder minder naher Beziehung zur Religion stehen, vornehmlich der katholischen und griechischen Kirche angehören, während die protestantische mehr bei einzelnen weltlichen Festen, um ihnen gleichsam die höhere Weihe zu erteilen, mitzuwirken pflegt. Am volkstümlichsten sind die Feste geworden, welche, aus heidnischer Zeit herrührend, von der Kirche bloß christliche Bedeutung erhielten, wie die ehemaligen Sonnenwend-, Herbst- und Frühlingsfeste, deren Gebräuche so tief im Volk wurzelten, daß sie sich bis jetzt erhalten haben. Bei mehreren christlichen Festen, wie Weihnachten und Ostern, ward sogar der Name früherer heidnischer Hoch- oder Festzeiten beibehalten, und manche Gedächtnistage von Heiligen und Kirchweihen, die wahre V. geworden sind, mögen absichtlich in Zeiten verlegt worden sein, welche schon vorher zu religiösen Feierlichkeiten bestimmt waren. Bei wenigen Völkern hat das Festwesen, das mit der Religion in inniger Verbindung stand, so das ganze Volksleben durchdrungen und ist zugleich Sache des Staats geworden wie bei den alten Griechen, wo es in den großen Nationalfesten der Olympischen, Pythischen, Isthmischen und Nemeischen Spiele seinen Gipfel erreichte. In gegenwärtiger Zeit haben viele frühere V. sich teils ganz verloren, weil der Anlaß, der sie hervorrief, weggefallen ist, teils sind sie farbloser und unbelebter geworden, namentlich bei solchen Völkern, bei denen eine gewisse konventionelle Scheu der Höhern und Gebildeten, mit ihrer Lebenslust öffentlich hervorzutreten, herrschend geworden ist. Zum Teil aber liegt auch die Ursache in einem mißverstandenen Eifer der Geistlichkeit und Polizei, Volksbelustigungen zu verbieten, weil sie hin und wieder zu Ausschreitungen führen, ohne zu bedenken, daß gerade V. das fruchtreichste Förderungsmittel der geselligen Tugenden und der sittlichen Bildung eines Volkes und ein mächtiger Hebel der Vaterlandsliebe sind. Mit Recht haben die Deutschen daher in neuerer Zeit eine Wiederbelebung der alten Schützen-, Sänger- und Turnerfeste angestrebt, um eine Annäherung der stammverwandten deutschen, österreichischen und schweizerischen Stämme zu befördern. Vgl. Reimann, Deutsche V. im 19. Jahrhundert (Weim. 1839); Brand, Popular antiquities (Lond. 1849, 3 Bde.); Montanus, Die deutschen V. etc. (Iserl. 1854-58, 2 Bde.); v. Reinsberg-Düringsfeld, Das festliche Jahr (Leipz. 1863); Lippert, Deutsche Festbräuche (Prag 1884). Vgl. Zunftgebräuche.

Volksherrschaft, s. Republik.

Volksheuer, s. Heuer.

Volkskrankheit, s. Epidemie.

Volksküchen, Wohlthätigkeitsanstalten, in denen arme Leute mit nahrhafter Suppe entweder unentgeltlich oder gegen geringe Entschädigung versorgt werden. Die V. traten besonders 1813 und in dem Hungerjahr 1816/17 ins Leben, obgleich die Idee derselben schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts von Rumford ausgesprochen worden war, und fanden in den letzten 15 Jahren besonders durch die Thätigkeit der Frauenvereine (s. d., S. 629) allgemeinen Eingang. Die erste größere, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung beruhende Anstalt wurde 1849 in Leipzig gegründet (die zweite daselbst 1871); ihr folgten Dresden 1851, Berlin 1866 (das daselbst in den 50er Jahren gegründete Institut von Ravené bestand nur kurze Zeit), Prag, Brüssel, Breslau 1868, Graz und Hamburg 1869, Straßburg 1870, Wien 1873 etc. Einem großen Teil der deutschen (auch einigen ausländischen) V. haben die Einrichtungen der Leipziger Anstalt als Vorbild gedient. In allen V. wird durchschnittlich 1 Lit. Gemüse in Bouillon gekocht und ca. 1/12 kg Fleisch gegeben, die Preise dafür schwanken zwischen 15 und 25 Pf. In manchen Gegenden muß man sich durch Mehrlieferung (Abgabe von weitern halben Portionen) den betreffenden Gewohnheiten anfügen. Die Berliner V., von Lina Morgenstern gestiftet, vermochten einen Unterstützungsfonds anzusammeln. Die Erfahrungen derselben lehrten, daß sogen. halbe Portionen für Frauen und Kinder zur Ernährung vollkommen ausreichen. Näheres über V. enthält der als Manuskript gedruckte Bericht von Jul. Häckel über das 25jährige Bestehen der Leipziger Volksküche (3. Aufl. 1886).

Volkskunde, s. Folklore und Völkerpsychologie.

Volkslied, das für den Gesang gedichtete und wirklich gesungene Erzeugnis der Volkspoesie. Diese bildet den Gegensatz zu der Kunstpoesie, bei welcher der Dichter mit Bewußtsein den Forderungen der Kunst hinsichtlich ihrer innern wie äußern Gestaltung zu genügen sucht. Letztere kann erst entstehen, wenn zur poetischen Kraft höhere Bildung hinzutritt; bis dahin ist die ganze Poesie eines Volkes nur Volkspoesie, und die meisten Völker bleiben bei derselben stehen. Auch bei den Völkern, wo die Kunstpoesie sich entwickelt, geht die Volkspoesie immer voraus und er-^[folgende Seite]