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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Anthropologenkongreß (Danzig 1891)

Renntierreste, die sich sowohl aus der vorglazialen als aus der zwischen- und nachglazialen Zeit vorfinden, und zwar solche aus vorglazialer Zeit eben nur in Ost- und Westpreußen, sonst nirgends in Europa. Der Mensch kann während der ältern Steinzeit ebensowenig in Westpreußen gelebt haben wie in Dänemark. Selbst nach der zweiten Eisperiode setzte das zunächst noch sehr rauhe Klima der Besiedelung Schwierigkeiten entgegen. Reste des Menschen aus der jüngern Steinzeit sind unter anderm in jenen tiefgesenkten Süßwasserschichten aufgefunden worden, stammen also aus einer Zeit vor der erfolgten Senkung. Redner sprach weiter über die Veränderungen der Meeresküsten und der Flußläufe, über die Deltabildung und die Moore, von denen Westpreußen eine ganz ungeheure Anzahl, meist aber von geringer Größe, besitzt.

Den nächsten Vortrag hielt Montelius - Stockholm über die Chronologie der jüngern Steinzeit in Skandinavien. Die jüngere Steinzeit (ohne die Kjökkenmöddinger) hat in Skandinavien eine sehr lange Dauer gehabt und beansprucht für dies Land deshalb wohl die Bedeutung einer selbständigen und umfangreichen Entwickelung. Aus diesem Grunde scheint der Versuch lohnend, die dortigen Reste der jüngern Steinzeit unter sich wieder chronologisch zu ordnen. Die Angriffspunkte zu dieser Ordnung bilden die verschiedenen Formen der Gräber sowie die Typen der Waffen und Geräte, unter den Waffen namentlich die Feuersteinaxt. Nach Montelius bestand ein älterer Zeitabschnitt, aus welchem keine Gräber erhalten sind, wohl aber Äxte mit spitz-ovalem Durchschnitt. Diese Form ändert sich bei dem zweiten Zeitabschnitt derartig, daß die Axt Schmalseiten mit dünnem Nacken, bei den folgenden Abschnitten Schmalseiten mit breitem Nacken aufweist. Vom zweiten Zeitraum an treten dann die Gräber auf und zwar zunächst Dolmen (Hünengräber), die gänzlich freistehen, aber keinen Innengang besitzen. Die dritte Periode enthält Ganggräber, die vierte Steinkisten und zwar anfänglich mit mehr oder weniger frei stehendem Deckel, später völlig von dem aufgehöhten Hügel verdeckt, zum Teil sogar unter der gewachsenen Erdoberfläche. Diese Einteilung wird durch die sonstigen Einschlüsse der Gräber (Steinwerkzeuge und Waffen, Thongefäße, Bernsteinstücke etc.) bestätigt. Die Bernsteinfunde in den skandinavischen Dolmen beweisen, daß das Meer keine trennende Schranke zwischen der Halbinsel und dem Festland gebildet haben kann. Aber die Beziehungen Skandinaviens zum übrigen Europa gingen viel weiter, denn auch die Formen der skandinavischen Gräber und der sonstigen Funde stehen nicht vereinzelt, sie kehren vielmehr vielfach in Westeuropa, in Mittel- und Südeuropa, ja bis nach Cypern wieder. Hieraus ist zu schließen, daß die nordische Kultur durch Einflüsse des Südens gesteigert wurde, und daß in dieser Weise ihre schon in der Steinzeit auffallende Entwickelung erklärt werden muß. Jene Übereinstimmung der Formen wird aber auch dazu führen, die Chronologisierung der skandinavischen Funde zu erleichtern, und aus dem, was sich schon jetzt in diesem Sinn erkennbar macht und was Redner im einzelnen ausführte, ergibt sich (und das Studium der Bronzezeit bestätigt es), daß die Entwickelung der Kultur in den verschiedenen Ländern Europas viel gleichmäßiger, bez. gleichzeitiger vor sich gegangen ist, als man bisher angenommen hat.

In der dritten Sitzung wurde Ulm zum Vorort des nächsten Kongresses gewählt. Helm - Danzig sprach über die chemische Zusammensetzung der westpreußischen Bronzen. Er fand besonders bei einer beträchtlichen Zahl von Exemplaren der ältesten Zeit einen auffallend hohen Antimongehalt. Da in einzelnen Fällen dieser Gehalt auf 7 Proz. steigt, so ist die Annahme ausgeschlossen, daß das Antimon durch irgend einen Zufall in die Bronze gelangt sei. Von großem Wert sind daher die Angaben Virchows über prähistorische Gewinnung und Verarbeitung von Antimon im Kaukasus. Die Frage, wie das heute so seltene Antimon in die prähistorischen Bronzen gelangt sei, glaubt Helm damit beantworten zu können, daß zu Anfang der Bronzezeit noch viel herumexperimentiert wurde, um die vorteilhafteste Mischung herauszubekommen. Unterstützt wird diese Annahme dadurch, daß einzelne Legierungen aus 6-8 Metallen zusammengeschmolzen sind. Waldeyer - Berlin sprach über die sogen. Reilsche Insel und die Sylvische Furche des Gibbon und die bei den übrigen menschenähnlichen Affen, dem Orang-Utan, Gorilla und Schimpanse, vorhandenen entsprechenden Bildungen. Die Inselwindungen dieser Affen zeigen stufenweise eine Fortentwickelung vom Gibbon bis zum Schimpanse, indem sich der Orang-Utan unmittelbar an den Gibbon anlehnt, der Gorilla eine weitere Ausbildung aufweist, der Schimpanse aber die höchste Stufe unter den Geschöpfen dieser merkwürdigen Gruppe erreicht. Wenn auch die Grundform der Insel bei den Anthropoiden und dem Menschen dieselbe ist, so zeigt sich doch zwischen dem letztern und dem Schimpanse in der Ausbildung der Inselfurchung eine auffallende Kluft. Die Zahl der Windungen ist beim Menschen größer, namentlich hat der untere oder temporale Lappen der Insel, welcher bei den Anthropoiden windungsfrei bleibt oder höchstens schwache Spuren von Windungen zeigt, beim Menschen 3-4 deutliche Windungen. Ein Fall von erblicher Zwerghaftigkeit, welchen Lissauer - Danzig vorstellte, regte lebhaften Meinungsaustausch an. Es handelte sich um einen 42jährigen Bernsteinarbeiter, dessen Beine und Arme außerordentlich kurz sind. Das infolgedessen sehr kleine Männchen hat eine normal gebaute Person zur Frau, und aus dieser Ehe sind zwei Mädchen hervorgegangen, von denen das ältere, jetzt zehnjährige, die Zwergnatur des Vaters, das jüngere, jetzt vierjährige, den normalen Bau der Mutter geerbt hat, so daß das vierjährige Kind ganz erheblich größer ist als das zehnjährige. Ranke - München sprach über das Verhältnis des Schädels zum Gehirn beim Tier und beim Menschen. Unter Vorlegung von verschiedenartigen Schädeln suchte er den Nachweis zu führen, daß die räumliche Ausbildung des Gehirns von entscheidendem Einfluß auf den Unterschied in der Form des menschlichen und tierischen Schädels ist. Je stärker entwickelt das Gehirn, um so mehr werden die vordern Schädelteile weiter nach vorn gedrängt, in demselben Verhältnis treten dann die untern Gesichtsteile gegen die obern zurück, und der tierische Prognathismus, die Schnauzenbildung, verschwindet, um der reinern menschlichen Gesichtsform zu weichen. Mies - Berlin und Rabl - Gratz sprachen über Schädelmessung, darauf berichtete ersterer über die Feststellung der Persönlichkeit für polizeiliche oder gerichtliche Zwecke durch Körpermessung. Die Photographische Fixierung von Leuten, die man sicher wiederkennen will, genügt aus naheliegenden Gründen nicht, namentlich nicht in großen Städten, wo die Blätter des »Verbrecheralbums« ungemein zahlreich werden. Die früher übliche Brandmarkung