Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Unfallversicherung

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Unfallversicherung (Deutschland, Österreich, Italien, Schweiz, Frankreich).

Es kommen 1889 bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften auf 1000 Versicherte an Verletzten überhaupt (Tabelle A, Spalte 5 und 8): 29,42 (1888: 28,04), darunter solche, für welche Entschädigungen festgestellt wurden (Tabelle A, Spalte 5): 4,71 (1888: 4,4).

In den außerdeutschen Staaten hat die U. in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht; namentlich sind es die Länder Österreich-Ungarn, Italien, die Schweiz und Frankreich, wo die U. neuerdings gesetzlich geregelt wurde oder eine solche Regelung angestrebt wird.

In Österreich-Ungarn sind nach dem Gesetz, betreffend die U. vom 28. Dez. 1887, alle in Fabriken und Hüttenwerken, in Bergwerken auf nicht vorbehaltene Mineralien, auf Werften, Stapeln und Brüchen sowie in den zu diesen Betrieben gehörigen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten gegen die Folgen der beim Betrieb sich ereignenden Unfälle versichert. Als Arbeiter, bez. als Betriebsbeamte werden auch Lehrlinge, Volontäre, Praktikanten und andre Personen angesehen, welche wegen noch nicht beendeter Ausbildung keinen oder einen niedrigern Arbeitsverdienst beziehen. Im Falle einer Körperverletzung soll der Schadenersatz in einer dem Verletzten vom Beginn der fünften Woche nach Eintritt des Unfalls angefangenen, für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Rente bestehen. Die Rente beträgt: a) im Falle gänzlicher Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben 60 Proz. des Jahresarbeitsverdienstes, b) im Falle teilweiser Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben einen Bruchteil jener Rente, welche nach dem Maße der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu bemessen ist, jedoch nicht über 50 Proz. des Jahresarbeitsverdienstes betragen darf. Im Falle der Tod aus dem Betriebsunfall erfolgt ist, besteht der Schadenersatz außer in den Leistungen, welche dem Verletzten für die Zeit vor dem Eintritt des Todes etwa gebühren, noch: 1) in den Beerdigungskosten, nach dem Gebrauch des Ortes, höchstens von 25 Gulden; 2) in einer den Hinterbliebenen des Getöteten, vom Todestag angefangen, zu gewährenden Rente, welche ähnlich wie die im deutschen Unfallversicherungsgesetz festgestellte Rente berechnet wird. Zur Durchführung der U. ist in der Regel für jedes Land in der Landeshauptstadt eine Versicherungsanstalt errichtet. Mitglieder dieser Anstalt sind die Unternehmer der im Bezirk gelegenen versicherungspflichtigen Betriebe und die in denselben beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten. Der Vorstand der Anstalt besteht zu einem Drittel aus Vertretern der Betriebsunternehmer, zu einem Drittel aus Vertretern der Versicherten und zu einem Drittel aus den mit den wirtschaftlichen Verhältnissen des Bezirks vertrauten, vom Minister des Innern berufenen Personen. Die Versicherungskosten werden durch Beiträge aufgebracht, welche von den Mitgliedern nach Maßgabe des von den Versicherten bezogenen Arbeitsverdienstes und unter Zugrundelegung eines Gefahrenklassentarifs zu entrichten sind. Ein Arbeitsverdienst, welcher den Betrag von 1200 Guld. für ein Jahr übersteigt, kommt nur mit diesem letztern in Anrechnung. Von den Versicherungsbeiträgen fallen dem Versicherten 10 Proz., dem Unternehmer des versicherungspflichtigen Betriebs 90 Proz. zur Last; letzterer muß beide Quoten bezahlen, hat aber das Recht, die Quote des Versicherten von dem Gehalt oder Lohne desselben einzubehalten. Außerhalb des Gesetzes stehende berufsgenossenschaftliche Versicherungsanstalten können nach ministerieller Genehmigung die Funktionen der staatlichen Anstalten übernehmen. Die übrigen Einrichtungen sind in gleicher oder ähnlicher Weise wie in Deutschland getroffen.

In Italien existiert als Hauptversicherungsanstalt die auf Grund des Gesetzes vom 8. Juli 1883 gegründete Nationalbank für Versicherung der Arbeiter gegen Unfälle. Die Bank ist nicht staatlich, sondern der Staat hat sie nur ins Leben gerufen und führt eine gewisse Aufsicht über ihre Thätigkeit, namentlich über die Feststellung der Prämiensätze. Ursprünglich haben 10 Geldinstitute einen Garantiefonds von 1,500,000 Lire zugesichert und sich auch zur Tragung der Verwaltungskosten verpflichtet. Der Dienst der Postsparkassen ist von der Regierung der Bank kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Zweck der Nationalbank ist, gegen die Schäden zu versichern, welche den Arbeitern im Gebiete des italienischen Staates durch Unglücksfälle bei der Arbeit entstehen. Die Versicherung ist individuell oder kollektiv; die Kollektivversicherung kann von den Arbeitgebern allein, oder von den Arbeitgebern und Arbeitern, oder nur von Arbeitern ausgehen. Die Versicherung findet Anwendung auf solche Unglücksfälle, welche den Tod des Versicherten, eine vollständige dauernde Arbeitsunfähigkeit, eine teilweise dauernde Arbeitsunfähigkeit, endlich eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Überschüsse werden alle 5 Jahre zur Hälfte dem Garantiefonds zugewiesen, zur Hälfte an die Versicherten verteilt, welche innerhalb dieses Zeitraums eine Entschädigung wegen vollständiger und dauernder Arbeitsunfähigkeit erhalten haben. Am 1. Jan. 1889 hatte die Nationalbank 70,222 Versicherungen abgeschlossen. Diese geringe Entwickelung liegt teils in verschiedenen Einrichtungen der Bank selbst, teils in der geringen Selbständigkeit derselben begründet. Die U. wird in Italien ferner noch durchgeführt von privaten und kommunalen Instituten; unter letztern ist besonders das 1883 in Mailand begründete Patronat für Versicherung von Arbeitern bei Unglücksfällen zu nennen. Die Anstalten dieser Art haben sich verhältnismäßig viel günstiger entwickelt als die Nationalbank. Für eine obligatorische Staatsversicherung herrscht in Italien wenig Meinung. Die Zahl der in Italien gegen Unfall versicherten Arbeiter wurde 1. Jan. 1889 auf 100,000 geschätzt.

Die Schweiz erstrebt seit mehreren Jahren eine U. nach deutschem Muster. Zu diesem Zwecke werden seit Ende 1887 auf die Dauer von 3 Jahren alle Unfälle vermerkt, welche für Arbeiter im Alter von mehr als 14 Jahren den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als 6 Tagen zur Folge haben.

In Frankreich herrscht bezüglich der gesetzlichen Regelung der U. ein ähnliches Bestreben. Dort besteht nämlich auf Grund des Gesetzes vom 11. Juli 1868 und unter Verwaltung der Depositenkasse eine Lebens- und Unfallversicherungskasse. Die Versicherung bei derselben ist eine freiwillige und kann auf eine Summe bis zu 3000 Frank erfolgen. Die Kasse kennt keine Gefahrenklassen und gewährt bei Erwerbsunfähigkeit, deren Grad durch ein aus Sachverständigen bestehendes Schiedsgericht bestimmt wird, dem Verletzten den 320fachen Betrag der Prämie als Rente; letztere wird im Falle vollständiger Erwerbsunfähigkeit aus Staatsmitteln um das Doppelte erhöht. Die Versicherungssumme wird bei der Altersrentenkasse in eine entsprechende Leibrente umgewandelt. Die Hinterbliebenen erhalten eine Rente, welche die Höhe von zwei Jahresraten der dem Versicherten zugesprochenen Leibrente erreichen kann.