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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Dämmerung (normaler Verlauf; ungewöhnliche Erscheinungen 1883-86)

bis zu 8 oder 10° über den Horizont. Kurz darauf erscheint der stahlgraue, glanzlose Erdschatten in Gestalt eines Segmentes, welches, wenn sein Gipfel die Höhe von etwa 2° erreicht hat, eine horizontale Erstreckung von 60-70° einnimmt. Das emporsteigende graue Segment bedeckt allmählich den rothen Streifen des Osthimmels und erreicht in den letzten Augenblicken seiner Sichtbarkeit eine Höhe von 12 bis 14°, wenn die Sonne sich etwa 4° unter dem Horizont befindet.

Ungefähr 20 Minuten nach Untergang der Sonne, nämlich wenn sie etwa 3 1/2° unter den Horizont gesunken ist, beginnt der dritte Teil der D., welchen man als die Periode des »ersten Purpurlichtes« bezeichnen kann. In einer Höhe von etwa 25° erscheint auf dem Himmelsblau, das schon viel von seiner Helligkeit verloren hat, eine zwischen Rosenrot und Purpur liegende Färbung, die anfangs so schwach ist, daß sie nur von einein geübten Auge wahrgenommen werden kann. Sie nimmt jedoch rasch an Lichtstärke zu und dehnt sich nach oben und unten zu einer fast kreisförmigen Scheibe mit sehr verwaschenen Rändern aus, deren Radius bis zu den farbigen Schichten des Westens fortwährend wächst. Die Mitte dieser Scheibe, die am lebhaftesten rot gefärbt erscheint, entspricht der Stelle, wo die erste Rötung erschien. Betrachtet man in diesem Zeitpunkte die nach W. gewendeten Gegenstände, z. B. Gebäude, Gebirge 2c., welche nach Sonnenuntergang nach und nach dunkel geworden waren, so sieht man sie plötzlich mit rosigem Licht wieder aufleuchten (Nachglühen der Alpen). Einige Minuten nach seinem Erscheinen erreicht das Purpurlicht seine größte Lichtstärke, und zwar in dem Augenblick, in welchem im O. jede Spur von rötlicher Färbung verschwindet und die Sonne bis etwa 4° unter den Horizont gesunken ist. Inzwischen hat die Scheibe des Purpurlichts ihren untern Rand in die farbigen Schichten hinabgetaucht, in deren Nähe sie das Aussehen eines zarten Vorhanges annimmt, der langsam herabsinkt. Da die Mitte der Scheibe sich schneller senkt als die Scheibe selbst, während ihr Halbmesser fortwährend wächst, so verwandelt sie sich bald in einen Halbkreis und schließlich in ein Segment von geringer Höhe und großer Breite. Nach wenigen Augenblicken, sobald die Sonne etwa 6° unter dem Horizont steht, ist alles verschwunden.

Manchmal erscheint das Purpurlicht von dunkeln Streifen durchzogen, welche das Blau des Himmels durchschimmern lassen (Dämmerungsstrahlen); sie haben den Verlauf größter Kreise, die nach dem Orte der Sonne konvergieren, und sind nichts andres als die Schattenkegel irdischer Gegenstände oder auch von Wolken, die sich unter dem Horizont befinden.

Kaum ist das erste Purpurlicht erloschen, so erscheint die ganze Erdoberfläche in düstern Schatten getaucht. Bald jedoch wird die gefärbte Schicht im W. etwas lebhafter, die rötliche Färbung an der Unterseite nimmt an Lichtstärke zu, der darüber liegende gelbe Streifen wird leicht orangefarben, während im NW. und SW. die Basis der Schicht, welche bereits grau geworden war, manchmal bis zur Höhe von 1 oder 2° eine sehr schwache braunrote Färbung annimmt. Am Osthimmel sieht man manchmal gleichzeitig auf einige Augenblicke eine kaum wahrnehmbare düster rosenrote Färbung, und ein geübtes Auge kann darüber die Spuren eines zweiten grauen Segments erkennen. Kurz darauf, wenn die Sonne die Tiefe von etwa 7° erreicht hat, kann man unter günstigen Umständen ein zweites Purpurlicht beobachten, welches ungefähr in derselben Höhe wie das erste sich

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bildet, wie dieses an Lichtstärke und Ausdehnung zunimmt, aber schneller hinter den Horizont versinkt. Das zweite Purpurlicht erreicht seine größte Helligkeit, die jedoch im allgemeinen geringer ist als die des ersten, wenn die Sonne etwa 9° unter dem Horizont steht. Nachdem auch das zweite Purpurlicht (bei einer Sonnentiefe von etwa 12°) verschwunden ist, wird der ganze Himmel dunkel, nur im W. bleibt ein kleiner, schwach rötlichgelber Streifen und über diesem noch die weißliche Aureole, welche mittlerweile sich immer mehr gesenkt hat. Nach kurzer Zeit verschwindet auch der gelbliche Streifen, und es bleibt nur noch die weißliche Aureole, welche nach und nach von einem dunkeln, von oben herabsinkenden Schleier, dem Erdschatten, verdeckt wird. - Die Morgendämmerung zeigt im ganzen denselben Gang der Erscheinungen wie die eben geschilderte Abenddämmerung, nur in umgekehrter Reihenfolge.

Die Dämmerungserscheinungen, deren normaler Verlauf soeben beschrieben wurde, erregten die allgemeine Aufmerksamkeit, als sie mit ungewöhnlicher Pracht und Stärke vom Herbst 1883 bis Frühjahr 1884 und teilweise mit abnehmendem Glänze bis Sommer 1886 auftraten. Die in diesem Zeitabschnitt beobachteten Morgen und Abendröten stimmten zwar in der Reihenfolge ihrer Phasen mit der normalen D. überein, unterschieden sich von ihr aber durch größere Farbenpracht und durch ungewöhnlich lange Dauer. Unmittelbar vor Sonnenaufgang oder gleich nach Sonnenuntergang zeigte sich oer ganze Himmel gelb beleuchtet; die Beleuchtung war diffus, so daß man das dunkle Segment des Erdschattens nicht mit scharfer Begrenzung wahrnehmen konnte. Das erste Purpurlicht war räumlich viel ausgedehnter und weniger deutlich begrenzt, und oft zeigte sich der ganze Himmel mit purpurnen Tönen übergossen. Ganz enorm endlich war die Ausdehnung und Lichtstarke des zweiten Purpurlichts; es erreichte sein Maximum ungefähr 70-80 Minuten nach Sonnenuntergang wie gewöhnlich, erreichte aber eine Gesamtdauer von 2 Stunden und darüber.

Während der Periode dieser ungewöhnlichen Dämmerungserscheinungen bis in den Sommer 1886 zeigte sich ferner um die Sonne, auch wenn sie noch hoch am Himmel stand, ein rötlichbrauner Ring von 40-50° Durchmesser, in dessen Mitte die Sonne stand, und dessen zwischen der Sonne und dem innern Rande des rötlichen Ringes gelegene Fläche weißlich oder bläulichweiß erschien. Man nannte diese Erscheinung den Bishopschen Ring, weil S. Bishop in Honolulu ihn im September 1883 zuerst beobachtete. Man sah den Ring besonders deutlich, wenn die Sonne durch Ballenwolken oder durch ein Gebäude, in dessen Schatten der Beobachter stand, verdeckt war. Diese außergewöhnlichen Lichterscheinungen waren stets begleitet von einer eigentümlichen rauchigen Trübung der Atmosphäre, welche bis in große Höhen von einem feinen nebeligen Dunst erfüllt erschien. Dieser von Kießling so genannte Dunstnebel ist offenbar als die Ursache der ungewöhnlichen optischen Erscheinungen zu betrachten. Der Dunstnebel zeigte sich dichter in den äquatorialen als in den außertropischen Gegenden, am dichtesten in der Nähe des Vulkans der Insel Krakatau in der Sundastraße nach dessen großem Ausbruch 27. Aug. 1883, vielfach in Verbindung mit Aschenregen. Da von da ab allmählich und nacheinander, wie zahlreiche jetzt gesammelte Beobachtungen beweisen, der Dunstnebel, freilich ohne Aschenregen, sich rings um die Erde zunächst in den Tropen, später auch in den außertropischen Gegenden