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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Anfechtung

Geisteskranken nichtig. Der Mangel kann aber auch darin bestehen, daß das Recht dem Urheber des Rechtsgeschäfts oder seinem Mitkontrahenten oder einer dritten Person die Befugnis zuspricht, das Rechtsgeschäft wieder zu beseitigen oder seine Wirkungen auszuschließen, oder den, welcher infolge des Rechtsgeschäfts etwas erhalten hat, zu verpflichten, das Erhaltene herauszugeben oder Schadenersatz zu leisten. Der, welcher zu dieser A. berechtigt ist, kann auf die A. verzichten, dann wird der Mangel geheilt, das Rechtsgeschäft gilt so, als ob es von Anfang an gültig errichtet wäre. Ein Kauf, ein Mietvertrag, eine Schenkung u. s. w. können von der Partei angefochten und genehmigt werden, welche von der andern beim Abschluß betrogen worden ist. Ein Minderjähriger kann den Vertrag, welchen er geschlossen hat, anfechten, aber erst nach erfolgter Volljährigkeit genehmigen. Einige unterscheiden noch zwischen Anfechtbarkeit und relativer Nichtigkeit. Sie nennen anfechtbar die Geschäfte, welche durch die A. von der Zeit der Anfechtungserklärung ab, relativ nichtig diejenigen, welche durch die Erklärung rückwärts rescindiert werden. Ob das eine oder das andere eintritt, ob durch die A. die rechtlichen Wirkungen auch Dritten gegenüber beseitigt werden, oder ob nur eine persönliche Verpflichtung auf Wiederherstellung des frühern Zustandes begründet wird, ist für die verschiedenen Fälle in den Gesetzen verschieden geregelt.

Auf dem Gebiete des Familienrechts wird von A. unter anderm gesprochen, wenn es sich um die Verleugnung der Ehelichkeit eines während der Ehe geborenen Kindes seitens des Ehemannes der Mutter handelt (s. auch Anerkennung). Streitig ist für das Gemeine Recht, ob die A. nur dem Ehemanne zusteht oder auch andern, oder letztern nur, wenn der Ehemann verstorben ist, bevor er das Recht geltend machen konnte. Nach dem Urteil des Deutschen Reichsgerichts (Bolze, Praxis, Bd. 4, 893) darf auch das in der Ehe geborene Kind seine eigene Abstammung von dem Ehemanne anfechten; ob dies nach Preuß. Allg. Landrecht gestattet ist, darüber wird gestritten. Das Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §§. 1774 fg. giebt jedem, welcher ein Interesse daran hat, diese Befugnis. Im Gemeinen Rechte wird überwiegend angenommen, daß die Ehelichkeit nur in gewissen Fällen damit allein angefochten werden kann, daß der Beweis unternommen wird, eine Beiwohnung unter den Ehegatten habe in der Empfängniszeit nicht stattgefunden (vgl. Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. 12, S. 165 fg.); das Preuß. Allg. Landr. II, 2, §. 2 und das Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §. 1772 lassen den Beweis der Nichtbeiwohnung zu (das erstere verlangt den überzeugenden Nachweis); das Österr. Bürgerl. Gesetzb. §. 159 und für gewöhnliche Fälle das Gemeine Recht verlangen den Beweis der Unmöglichkeit der von dem Ehemanne erfolgten Zeugung. Der Code civil und das Badische Landr. Art.312, 313 erfordern, abgesehen von dem Falle des Ehebruches der Ehefrau, den Nachweis, daß es dem Ehemanne wegen Entfernung oder irgend eines Zufalles unmöglich war, der Frau beizuwohnen. - Eine Mehrzahl der Gesetze erklärt das Zeugnis der Mutter für unerheblich und auch den bewiesenen Ehebruch für nicht beachtlich. - Verschieden bestimmen die geltenden Rechte in Ansehung der Berücksichtigung der Reife des Kindes; meist sprechen sie sich verneinend aus; das Preuß. Allg. Landr. II, 2, §. 21 macht eine Ausnahme wegen des nach dem Tode des Ehemannes geborenen Kindes. Das Preuß. Allg. Landr. II, 2, §§. 2, 3 legt Gewicht auf das dargethane Zeugungsunvermögen des Ehemannes, der Code civil Art. 313 leugnet geradezu, daß dieses zu beachten sei, jedoch ist dessen Auslegung nicht unbestritten. Die Anerkennung seitens des Ehemannes kann gleichfalls angefochten werden (s. Anerkennung). Angefochten werden kann ferner die Annahme an Kindesstatt sowie deren Aufhebung. Das geltende Recht schweigt überwiegend hierüber und auch über die A. derjenigen Erklärungen, auf Grund deren die Ehelichkeitserklärung erfolgt ist.

Weiter ist von hervorragender Bedeutung die A. der Ehe. Es handelt sich um diejenigen Fälle, in welchen bestimmten Personen das ausschließliche Recht zusteht, auf Ungültigkeitserklärung der Ehe anzutragen. Das geltende Recht spricht in solchen Fällen nicht von Anfechtbarkeit, sondern von Ungültigkeit oder Nichtigkeit auf Antrag; indessen geht es zumeist davon aus, daß eine solche Ehe dann gültig werde, wenn das Recht desjenigen, welcher die Ungültigkeit geltend machen kann, wegfällt. Vgl. z. B. Preuß. Allg. Landr. II, 1, §§. 933, 934, 950-952, 973-975; Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §§. 1020-1620; Code civil Art. 180 fg., u. a. Die Anfechtungsgründe sind verschieden bestimmt. In Betracht kommen vorzugsweise Zwang (Drohung), Betrug, Irrtum, namentlich Verhehlung persönlicher Eigenschaften, Impotenz, Eheunmündigkeit, mangelnde Einwilligung derjenigen, welche einzuwilligen haben, Ehe mit dem Vormunde u. dgl. In der Regel hat die durchgeführte A. zur Folge, daß die Ehe als nicht geschlossen gilt; nur vereinzelt wirkt die A. wie die Ehescheidung. Das Recht zur A. pflegt nach dem geltenden Rechte nur demjenigen Ehegatten selbst zuzustehen, in dessen Person der Grund der A. liegt, gebunden an eine gewisse Frist und mit Heilbarkeit durch Genehmigung. Nach dem Preuß. Allg. Landr. II, 1, §§. 978 fg. kann der Vater, dessen Einwilligung erforderlich war, auch selbst die Ehe als ungültig anfechten. Nach dem Code civil Art. 182, 183 steht überhaupt ein Anfechtungsrecht denjenigen zu, deren Einwilligung erforderlich war, ebenso nach dem Österr. Bürgerl. Gesetzb. §. 96, dem bad. Gesetz vom 9. Dez. 1875 und dem sächs. Gesetz vom 5. Nov. 1875, sowie nach dem schweiz. Bundesgesetz vom 24. Dez. 1874. Wegen der großen Verschiedenheit des geltenden Rechts in dieser Beziehung wird auf die Motive zum Entwürfe eines Bürgerl. Gesetzb. Bd. 4, S. 44 fg., 71 fg. hingewiesen.

Im Gebiete des Erbrechts findet die A. vielfache Anwendung. Hierher gehören: a. Die A. letztwilliger Verfügungen wegen eines Willensfehlers. Für das Gemeine Recht wird bei Willensfehlern oder doch einigen derselben, häufig, wenn nicht meist, Nichtigkeit angenommen, so auch im Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §§. 2078, 2079, nach Preuß. Allg. Landr. hingegen zumeist Anfechtbarkeit, vgl. I, 12, §§. 23-25. Für das Österr. Bürgerl. Gesetzbuch wird bei Zwang und Betrug Nichtigkeit angenommen, §§. 570-572, im Falle des Irrtums wohl Anfechtbarkeit. Für den Code civil dürfte (vgl. Art. 1117 mit Art. 90) A. anzunehmen sein. Das Badische Landrecht scheint nach den Sätzen 901a bis 901d Nichtigkeit gewollt zu haben (901b "vernichtet den letzten Willen"). Der besondere Fall der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten hat in den geltenden Rechten eine sehr