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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsches Theater

des Publikums der talentvolle und witzige Aug. von Kotzebue durch seine mit falscher Empfindsamkeit, mit rührseliger Charakterlosigkeit gefährlich versetzte Schriftstellerei, die wohl ein Vierteljahrhundert lang das Repertoire beherrschte.

Gegen diese ganze Gattung wandte sich die idealistische Reform, durch die Weimars große Dichter dem Theater eine völlig veränderte Richtung zu geben suchten. Goethe hatte die Direktion des 1791 errichteten weimarischen Hoftheaters übernommen. Bald wandte auch Schiller demselben seine belebende produktive Teilnahme zu, und von Weimar ging nunmehr eine neue Schule der Dicht- und Schauspielkunst aus, die ein entscheidendes Ansehen mit der Aufführung von Schillers Wallenstein-Trilogie (Okt. 1798, Jan. und April 1799) gewann. Erst durch sie lernten die deutschen Schauspieler Dramen vornehmen Stils in ruhig schöner Würde darstellen, durch sie lernte das Publikum, im Theater nicht nur Vergnügen oder Aufregung, sondern auch tiefen künstlerischen Genuß suchen, durch sie endlich lernten die Theaterleiter, das Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch zu edlerer Kost erziehen. Von Weimar aus eroberten sich Schillers hinreißende Dramen ganz Deutschland. Es ist wohl richtig, daß der Weimarer Kunststil, der mehr auf Schönheit als auf Naturwahrheit ausging, für minder begabte Schauspieler die Gefahr der Manieriertheit und Hohlheit mit sich brachte, eine Gefahr, vergleichbar jener, die Schillers Nachahmer im Drama liefen. Es ist ferner unleugbar, daß sich die Weimarer Dichter zu allerlei technischen und litterar. Experimenten verleiten ließen (man denke an die Chöre in der «Braut von Messina», die Dramen «Jon» und «Alarkos» der Brüder Schlegel), die der Bühne wenig praktischen Nutzen brachten. Ebenso sicher aber ist es, daß sie mit geringen Mitteln und mäßigen Kräften, unter denen Vohs, Graff, die Jagemann, die Schröter, das Ehepaar Wolff hervorragten, Wunderbares erreichten, daß sie durch ihr Beispiel großen Einfluß übten, daß sie das D. T. und Drama erst auf die Höhe des künstlerischen Ernstes und der künstlerischen Leistungsfähigkeit erhoben. Ähnliches ist nirgends wieder geglückt; der verwandte Versuch einer idealen Musterbühne, den Karl Immermann 1834‒37 in Düsseldorf mit Hingabe und Geschick wagte, mußte bald aufgegeben werden. Ein Hauptgrund war freilich, daß die Folgezeit keinen zweiten Schiller hervorbrachte, der edelste Kunst mit unmittelbarer populärer Bühnenwirkung verband; die großen Dramatiker des 19. Jahrh., Heinr. von Kleist, Grillparzer, Hebbel haben sämtlich erst späte Erfolge gehabt und nie eigentliche Zugstücke geschrieben, und die Mehrzahl der nachschillerschen Jambendramatiker verdiente kein besseres Schicksal, als ihnen wurde.

Wächst die Zahl der stehenden Bühnen seit Anfang des Jahrhunderts ins Große, so spielt sich die Entwicklung des Theaters doch mehr und mehr in den beiden Hauptstädten Berlin und Wien ab; nur die Dresdener Bühne hat unter Ludw. Tiecks und Gutzkows Einfluß, durch die Schauspieler Eduard und Emil Devrient, Dawison, wie durch Wilhelmine Schröder-Devrient, die Münchener durch den idealistischen Heldenspieler Eßlair zeitweilig eine Rolle gespielt. In Berlin wurde 1786 das Komödienhaus auf dem Gendarmenmarkt zum «Nationaltheater» erhoben und von J. J. Engels, später sehr glücklich von Iffland geleitet, der mit den Weimarer Dichtern enge Fühlung hatte und klassische Aufführungen sehr begünstigte; für Schiller zumal hatte er an Fleck, Mattausch und Frau Unzelmann-Bethmann vorzügliche Kräfte. Auch sein Nachfolger Graf Brühl, der 1815‒37 Generalintendant der königl. Schauspiele wurde und besonders eine reiche äußere Ausstattung begünstigte, behielt die Beziehungen zu Goethe und zog in dem Ehepaar Pius Alexander und Amalie Wolff treffliche Vertreter des Weimarer Stils nach Berlin. Unter ihm erlebte das Berliner Schauspiel äußerlich wohl seine höchste Blüte; an Raupach gewann es einen erfolgreichen Dichter, den später weder Frau Birch-Pfeiffer noch neuerdings Wildenbruch ersetzen konnte; die Namen Beschort, Lemm, Rebenstein, Gern, die Stich-Crelinger, vor allem Ludw. Devrient widerlegen den Satz, daß dem Mimen die Nachwelt keine Kränze flechte. Aber mit dem Grafen Brühl wurde die Theaterleitung ein Hofamt, dessen Träger höchstens ein gebildeter Dilettant war, mit ihm drängte sich bureaukratische Verwaltung ein und erzeugte Übelstände, die sich unter den folgenden Intendanzen Rederns, Küstners, Hülsens, Hochbergs nur gesteigert und das Berliner Schauspielhaus um seinen alten Ruhm gebracht haben, trotzdem es ihm an glänzenden Kräften (früher der geistvolle Seydelmann, später Dessoir, Hendrichs, Döring, die Frieb-Blumauer) nie gefehlt hat. Leider ist dieselbe wenig bewährte Einrichtung, die einen Kavalier als wirklichen Leiter an die Spitze stellt, einen sachverständigen Schauspieler oder Dichter höchstens an zweiter Stelle duldet und damit den innern Zusammenhang, die künstlerische Einheit löst, auch bei andern Hoftheatern Regel geworden, doch war die Wahl der vornehmen Intendanten nicht selten glücklich; auch hat es immer zahlreiche Ausnahmen gegeben, so früher Klingemann in Braunschweig, Franz von Holbein in Hannover, später Dingelstedt in München, Weimar und Wien, Ed. Devrient in Karlsruhe, Wehl in Stuttgart u. a.

Die guten Erfolge wirklich künstlerischer Leitung, die das Ganze mit ihrem einheitlichen Geiste durchdringt, belegt glänzend das Burgtheater in Wien, unstreitig die erste deutsche Bühne. Hier haben seit dem trefflichen Dramaturgen Schreyvogel (1768‒1832), wenn nicht formell, so thatsächlich, mit geringen Unterbrechungen ausgezeichnete Männer die Direktion in Händen gehabt, so Deinhardstein, Holbein, vor allen Laube (1849‒67), dann Halm, Dingelstedt, Wilbrandt, und sie haben der Bühne ein treffliches Ensemble zu erhalten gewußt, von Sophie Schröder, Anschütz, La Roche, Amalie Haizinger, Julie Rettich, Marie Seebach, Fichtner, Löwe bis auf Charlotte Wolter, Friederike Goßmann, Sonnenthal, Baumeister, Mitterwurzer u. a. War Wien früher eine Hochschule der Weimarer Richtung, so ist jetzt längst eine recht realistische Darstellung dort Tradition. Das Wiener Burgtheater war in der Auswahl seines Repertoires lange durch Censur und Rücksicht behindert; dafür erfreute es sich von je einer warmen Teilnahme des Publikums wie keine andere Bühne und hatte an Grillparzer, Halm, Hebbel einheimische starke Dramatiker, an Ziegler, Frau von Weißenthurn, Bauernfeld, Mosenthal wenigstens höchst zugkräftige Autoren.

Im Wiener Theaterleben spielten immer die Vorstadtbühnen eine große Rolle. Auf ihnen pflanzte sich neben allerlei Lokalpossen und den sehr beliebten Parodien das alte Zauberstück fort, das in Schika- ^[folgende Seite]