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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 843-1273)

und entscheidende Stimme bei der Papstwahl übertragen ließ. Heinrich III. hat dann nacheinander noch weitere drei Päpste erhoben und so das Recht des Kaisers zu lebendiger Geltung gebracht, aber er erwählte sie alle aus dem Kreise derjenigen Geistlichen, die in diesem Einfluß des Kaisers ein Unrecht sahen und für das Papsttum eine vom Kaisertum unabhängige und zugleich höhere Gewalt in Anspruch nahmen. Besonders lebendig lebte diese Vorstellung in Leo IX. (1048-54), und zum Siege gelangte sie, als Heinrich III. 1056 starb und den sechsjährigen Knaben Heinrich IV. als Erben hinterließ, während der Archidiakon Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII., die röm. Politik leitete. Bereits 1059 beseitigte Hildebrand durch ein Dekret Nikolaus' II. über die Papstwahl den maßgebenden Einfluß des deutschen Königs auf dieselben, was gewissermaßen schon dadurch vorbereitet war, daß Heinrich III. selbst gerade diejenige Richtung gefördert hatte, welche diesen Teil der königl. Gewalt bekämpfte. Andererseits aber offenbarte sich in der gesamten Verfassung des Reichs eine Verrückung und Verschiebung, welche alles fürchten ließ, und schon Heinrich III. hat trotz aller seiner Herrlichkeit während seiner ganzen Regierung mit gefährlichen Empörungen zu kämpfen gehabt, die aus der damaligen Verfassung des Reichs hervorgingen. Italien und (seit Konrad II.) Burgund war mit dem Deutschen Reiche durch Personalunion vereinigt, auch für jedes der drei Reiche eine besondere Kanzlei errichtet, die des Königs Entscheidungen in der rechtlich bindenden Form der Königsurkunde ausfertigte, und endlich ist seit 962 auch das röm. Kaisertum mit dem deutschen Königtum verbunden gewesen. Die Könige nannten sich zwar in der Regel erst Kaiser, nachdem sie in Rom von dem Papste gekrönt waren; aber sie übten auch vorher bereits unbestritten kaiserl. Gewalt und nannten sich auch wohl schon Kaiser. (So z. B. mehrfach Konrad III.) Diese Verbindung hat den deutschen Königen großen Glanz, dem deutschen Volke vielfältige Anregung und Förderung, aber auch ungeheure Aufgaben gebracht, und je mehr sie in ihnen den größten Teil ihrer Kraft verbrauchten, um so weniger konnten sie die königl. Befugnisse vor der Zersplitterung schützen, welche namentlich durch die Ausdehnung des Reichs, durch die Zerstörung des mittlern Besitzes und infolge davon des Unterthanenverbandes herbeigeführt wurde. Die Masse der kleinen Grundbesitzer verlor die Selbständigkeit teils durch die übermäßigen Schenkungen von Land an Kirchen und Klöster, teils durch die Lasten, welche die unentgeltliche Heerespflicht, die Dingpflicht (Gerichtspflicht), der Aufenthalt und die unvergütete Verpflegung des Königs in ihren Besitzungen, die Kriegsschäden u. s. w. verursachten. Schon unter Karl d. Gr. war diese Zersetzung weit gediehen, und die Grafen begannen zahlreiche Freie zu ihren Hintersassen zu machen und ihr Amt wie einen Besitz zu behandeln. Das Lehnwesen und die mit ihm verbundene Vasallität, d. h. die besondere in gebundenen Formen sich vollziehende Huldigung des Empfängers eines Amtes, eines Gutes oder Gebietes, gaben die Form her, um die Herrschaft des Königs auch da aufrecht zu erhalten, wo ein großer Teil der Unterthanen dem Könige nicht mehr unmittelbar, sondern nur durch das Mittel eines Herrn unterstanden, von dem sie wirtschaftlich und rechtlich abhängig waren. So entstand eine Aristokratie von weltlichen und geistlichen Großen, die dem Könige gegenüber immer neue Rechte in Anspruch zu nehmen suchten. Besonders gefährlich war, daß die weltlichen Herren die empfangenen Besitzungen und Ämter erblich zu machen strebten. Deshalb verliehen die Könige namentlich im 10. und 11. Jahrh. den geistlichen Großen, besonders den Bischöfen, umfangreiche Hoheitsrechte; denn noch galt im Deutschen Reich der im Fränkischen Reiche ausgebildete Satz, daß die Kirche eine Landeskirche sei, daß die Könige über das Kirchengut ein gewisses Verfügungsrecht ausüben und die Bischöfe und Äbte ernennen oder doch die Ernennung entscheidend beeinflussen könnten. Die große Kraftentwicklung des Deutschen Reichs unter Konrad II. und Heinrich III. beruhte wesentlich darauf, daß diese Könige über die geistlichen Großen noch leidlich verfügen konnten. Es war deshalb eine förmliche Umwälzung und eine Entwurzelung der deutschen Staatsordnung, daß Papst Gregor VII. die Investitur, d. h. die Verleihung eines geistlichen Amtes durch einen Laien, also auch durch den König, 1075 als kirchlich unerlaubt bezeichnete, und daß er für diese Lehre Anhänger fand. Die weltlichen Großen in Deutschland und Italien benutzten gern den Vorwand der Frömmigkeit, um sich dem von der Kirche angegriffenen Könige zu widersetzen, und die Könige von Frankreich ergriffen die Gelegenheit, den mächtigen Nachbar zu stürzen. Heinrich IV. war minderjährig, als dieser Angriff von Rom eröffnet wurde, er geriet zudem, sobald er heranwuchs, in schwere Kämpfe mit den Großen, namentlich den sächsischen, und auch seine persönlichen Verhältnisse schwächten seine Stellung; trotzdem hat er den Kampf für diesen, durch jahrhundertelange Übung anerkannten Besitz der Krone nicht ohne manchen Erfolg geführt. Freilich war Heinrich IV. auch ein begabter, in vieler Beziehung sogar ein bedeutender Herrscher, und seine Maßregeln lassen vielleicht selbst die Deutung zu, als habe er den Schwächen der Reichsverfassung grundsätzlich abzuhelfen und der königl. Gewalt aus den Ministerialen, dem spätern niedern Adel, eine neue und dauernde Stütze zu schaffen gesucht. Wenn er auch keine bleibenden Erfolge erreichte, so ist doch zu bewundern, wie hartnäckigen Widerstand er den zahlreichen Feinden entgegenstellte, obwohl Gregor, der die ganze bisherige Rechtsordnung mit einem Male als Unrecht und Sünde bezeichnete, um sich selbst an Stelle des Kaisers auch in weltlichen Dingen zum Haupte der Christenheit zu erheben, in der Habsucht der Fürsten und in der starken ascetischen Strömung der Zeit die stärksten Bundesgenossen fand. Nach der Buße zu Canossa, welche sich Heinrich selbst auferlegte, um den Papst moralisch zu zwingen, ihn von dem Banne zu lösen, den die Fürsten als Vorwand der Absetzung zu benutzen wünschten, gewann Heinrich doch bald wieder das Übergewicht und besetzte selbst Rom. Gregor mußte aus Rom weichen und starb in einer Art Verbannung. Auch über die Fürsten, die ihn 1077 in einer Versammlung zu Forchheim absetzten, behielt Heinrich im ganzen den Sieg. Die Gegenkönige erlagen einer nach dem andern, und um 1100 gebot Heinrich in Deutschland zwar nicht mit großer Macht, erhielt sich aber doch in verhältnismäßig ruhigem Besitz derselben. 1106 erlag er einer Empörung, an deren Spitze sein bereits zum Nachfolger erwählter Sohn Heinrich stand, wie es denn zu den schwersten Schäden des mittelalterlichen Lehnsstaates gehörte, daß der Streit der Interessen gerade die nächsten Familienglieder häufig