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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Impfung

mene Lymphe heißt, geimpft. In Deutschland wurde die Vaccination 1799‒1800 hauptsächlich durch die Ärzte Ballhorn, Stromeyer, Heim, Hufeland, Sömmering u. a., in Frankreich durch Aubert, in Italien durch Sacco eingeführt; durch de Carro in Wien gelangte auch Kuhpockenlymphe über Konstantinopel, Bagdad und Bassora nach Ostindien und Ceylon.

Die Kuhpocken- oder Schutzpockenimpfung, Vaccination (vaccinatio), hat sich im Laufe der Zeit als die großartigste und folgenreichste Leistung auf mediz. Gebiet, als eine segensreiche Wohlthat für das gesamte Menschengeschlecht erwiesen. Nicht nur, daß vordem in Blatternepidemien die Sterblichkeit eine außerordentlich große war (so starben 1796 allein im Königreich Preußen an dieser Krankheit weit über 30000 Menschen), sondern die dem Tode Entgangenen blieben oft in schrecklicher Weise verstümmelt, blind, taub, des Gebrauchs ihrer Glieder beraubt. In der Geschichte der Medizin ist keine Thatsache so fest begründet als der Erfolg der Vaccination, namentlich durch die Bemühungen der engl. Regierung, welche alle einschlägigen Erfahrungen und statist. Erhebungen hierüber zusammengestellt, die Gutachten vieler der größten Ärzte gesammelt und die Resultate in einem berühmten Blaubuch («Papers relating to the history and practice of vaccination») niedergelegt hat, welches 1857 dem engl. Parlament vorgelegt wurde und zum gesetzlichen Impfzwang in England führte. Einen absoluten Schutz gewährt die I. allerdings nicht. Es bleibt immerhin möglich, daß ein Geimpfter (Impfling) ausnahmsweise noch von echten Pocken befallen wird; ebensowenig ist aber auch jemand nach dem Überstehen der wahren Pocken vor einer neuen Erkrankung an denselben gesichert. Die I. gewährt ferner nur auf eine gewisse Zeit Schutz, und zwar im allgemeinen auf 10‒12, höchstens 15 Jahre; nach dieser Zeit ist zur weitern Sicherung des Individuums die Wiederholung der I., die Revaccination, notwendig. Bei Ausbruch einer Pockenepidemie namentlich sollten sich alle diejenigen nochmals impfen lassen, bei welchen die frühere I. bereits länger als 8‒10 Jahre zurückliegt. Erkrankt eine geimpfte Person während einer Pockenepidemie an den Menschenpocken, so treten diese jedoch in außerordentlich milder Form, als Varioloiden (s. d.) auf.

Außer dem Zweifel an der Wirksamkeit machen die Impfgegner, welche hauptsächlich aus Homöopathen und Naturärzten, Vegetarianern, Pietisten, einzelnen Geistlichen und den Socialdemokraten bestehen, gegen die Vaccination insbesondere noch geltend, daß auch andere Krankheiten durch die I. auf den Impfling übertragen werden können, insbesondere die Skrofulose und die Syphilis. Wenn auch nach den neuern Untersuchungen über das Wesen der Skrofulose (s. d.) die Möglichkeit einer Übertragung auf den Impfling bei fahrlässiger und unvorsichtiger Ausführung der I. zugegeben werden muß, so läßt sich diese Übertragung doch leicht verhüten. Auch die Bedeutung des Impfrotlaufs (Impferysipels), der von der Impfstelle aus auf verschieden großen Strecken sich verbreiten und dann wirklich eine ernste Gefahr hervorrufen kann, haben die Impfgegner weit überschätzt, denn unter den vielen Millionen von glücklich verlaufenen I. ist die Zahl der in dieser Weise tödlich gewordenen Fälle eine verschwindend geringe. Die Möglichkeit einer Übertragung der Syphilis gleichzeitig mit den Kuhpocken ist zwar gleichfalls nicht absolut in Abrede zu stellen, aber ebenfalls leicht zu vermeiden, wenn man nur von gesunden Kindern aus gesunden Familien impft; in der That fallen die wenigen, sicher beglaubigten Fälle von wirklicher Impfsyphilis nicht der I. als solcher, sondern lediglich nur der schlechten und nachlässigen Handhabung derselben zur Last. Durch die ausschließliche Anwendung der animalen Lymphe kann jeder Übertragung einer Krankheit auf den Impfling durch den Impfakt mit nahezu absoluter Sicherheit vorgebeugt werden. Es fällt damit ein Haupteinwand der sog. Impfgegner. Auch der weitere Einwand der Impfgegner, daß mehr Kinder an Masern, Scharlach, Krupp u. dgl. erkranken als vor der Einführung der Schutzpockemmpfung, ist hinfällig, denn da seit der Austilgung der verheerenden Menschenpocken die Zahl der Kinder überhaupt größer geworden ist, so hat auch notwendig die Zahl jener Erkrankungen zugenommen. In derselben Weise läßt sich der nämliche Einwand in Bezug auf den Typhus entkräften.

Bezüglich der Ausführung der I. ist, wie schon im oben Erwähnten angedeutet, große Vorsicht in der Auswahl des Impfstoffs erforderlich. Man impft entweder mit frischer Kuhpockenlymphe, die von spontan erkrankten Kühen (s. Kuhpocke) entlehnt oder in eigenen Impfinstituten durch Rückimpfung (Retrovaccination) vom Menschen auf das Kalb regeneriert wird (animale I.), oder man impft nur vermittelst humanisierter Lymphe von gesunden, zum erstenmal geimpften Kindern. Die alte Streitfrage, welche Methode besser und wirksamer sei, ist noch immer nicht endgültig entschieden; I. mit der wirklichen (originären) Kuhlymphe schlagen häufiger fehl und erregen vielfach viel heftigere örtliche Erscheinungen als die mit humanisierter Lymphe, wogegen die letztere nach der Ansicht vieler Ärzte, nachdem sie durch mehrere Generationen hindurchgegangen, mehr und mehr von ihrer Schutzkraft verliert und deshalb durch zeitweise Rückimpfung auf die Kuh der Auffrischung bedarf. Die Lymphe von revaccinierten Individuen ist in ihrer Wirkung unsicher und wird deshalb ungern benutzt; auch läßt sich beim Abimpfen von Erwachsenen die Übertragung von andern Krankheiten (Syphilis) nicht so leicht vermeiden als beim Abimpfen von Kindern. Wo man rein animale Lymphe aus gut eingerichteten und gut überwachten animalen Impfinstituten beschaffen kann, wird man dieser, namentlich in größern Städten, aus den eben angeführten Gründen den Vorzug geben; in einzelnen Staaten ist die animale I. bereits obligatorisch eingeführt. In diesen bestehen teils centrale, teils mehrere über das ganze Gebiet verteilte staatliche Anstalten zur Gewinnung animaler Lymphe, als deren hauptsächlichste in Deutschland die in Berlin, Dresden, Hamburg, München und Stuttgart zu nennen sind. Bei Verwendung von Menschenlymphe muß dieselbe der Impfblatter am siebenten oder achten Tage entnommen und soll womöglich frisch, direkt von Arm zu Arm, übertragen werden; doch kann man sich auch, wo dies nicht möglich ist, der konservierten Lymphe bedienen, die man nach dem Aussickern aus dem Eiterbläschen entweder unvermischt oder mit Glycerin und Wasser verdünnt (Müllersche Glycerinlymphe) in fein ausgezogenen und luftdicht durch Zuschmelzen oder durch Siegellack verschlossenen Glasröhrchen aufbewahrt.