Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

403

Voltaire

sich dann dem Studium der Rechte widmen. Aber frühzeitig eingeführt in den Kreis der vornehmen, feingebildeten Epikureer und litterar. Dilettanten des «Temple», erhielt er hier Gelegenheit, seinem Hange zur schönen Litteratur nachzugehen und die Keime einer freigeistigen Weltanschauung in sich aufzunehmen. V. wurde 1713 von seinem Vater, der ihn den Verführungen der Hauptstadt zu entziehen wünschte, erst nach Caen und dann als Page des Marquis von Châteauneuf nach dem Haag geschickt, aber wegen einer Liebschaft, in die er sich dort mit Olympie Dunoyer eingelassen hatte, bald nach Paris zurückgerufen. Es half nicht viel, daß man ihn in die Schreibstube eines Notars that, schon 1716 wurde er wegen einer Satire auf den Regenten zuerst aus Paris verwiesen, dann im Mai 1717 auf 11 Monate in die Bastille gesperrt und ihm erst seit März 1719 wieder der freie Aufenthalt in der Hauptstadt gestattet. In der Bastille hatte V. ein Trauerspiel «Œdipe» geschrieben, das 18. Nov. 1718 bei der ersten Aufführung den glänzendsten Erfolg errang. V. erhielt eine Pension vom Regenten und faßte festen Fuß in der Welt der Geburts- und Geldaristokratie. Schon jetzt legte er durch glückliche Spekulationen den Grund zu seinem spätern Reichtum. Gleichzeitig vertauschte er auch seinen Vaternamen mit dem Namen V., der vielleicht ein Anagramm aus Arouet l[e] j[eune] ist. Während seiner Haft hatte V. auch die «Henriade», die das franz. Nationalepos werden sollte, begonnen (gedruckt zuerst Rouen 1723, dann Lond. 1728). Wie er schon im «Œdipe» Ausfälle gegen das Priestertum gemacht hatte, diente ihm jetzt das epische Gedicht, das den Kampf Heinrichs Ⅳ. gegen die Ligue in schwungvollen Versen und mit dem herkömmlichen epischen Apparat behandelt, als Kampfmittel gegen Unduldsamkeit und zur Verurteilung geistlicher und adliger Herrschergelüste. Die Tragödie «Artémire» (1720) hatte wenig Erfolg, auch nicht in der umgearbeiteten Gestalt «Mariamne» (1724). Infolge eines Streites mit dem Chevalier de Rohan wieder einige Monate in die Bastille gebracht und dann verbannt, begab sich V. nach England und machte sich (1726‒28) dort mit Philosophie und Litteratur, mit den polit. und religiösen Zuständen Englands bekannt. Er kehrte heimlich nach Paris zurück, trieb daselbst gewinnreiche Handelsgeschäfte und ließ in Rouen (1730) die romanhafte «Histoire de Charles Ⅻ» erscheinen, während auf der Bühne die Tragödien «Brutus» (1730), «Eriphyle» (1732), «Zaïre» (1732), das empfindungsreichste Stück V.s, und «Adélaïde Duguesclin» (1734) erschienen. Viele Feinde machte er sich durch seine satir. Kritik in Versen «Le temple du goût», in der er die gleichzeitigen Poeten wenig schonte. Mit der Regierung brachten ihn dagegen seine «Lettres philosophiques sur les Anglais» (1731) in Konflikt, da sie mit der Darstellung engl. Verhältnisse eine scharfe Kritik der heimischen Zustände in Kirche, Staat und Gesellschaft verbanden. V. flüchtete nach Cirey (Herbst 1734) auf das Schloßgut seiner Freundin, der Marquise du Châtelet. Hier wohnte er mit kurzen Unterbrechungen 1734‒39, bei allen Zerstreuungen, welche Besuche, Geselligkeit, Musik und Theater brachten, eine anhaltende wissenschaftliche und dichterische Produktivität entwickelnd. Hier entstanden das frivole komische Epos «La pucelle d’Orléans» (1739; gedruckt zuerst 1755), sein bestes Lustspiel «L’Enfant prodigue» (1736) und die Tragödien «Alzire» (1736) und «Mahomet» veröffentlicht 1742). Wichtiger sind noch V.s philos.-naturwissenschaftliche Schriften aus dieser Zeit, sein «Mondain», worin er das Lob der Kultur und der Künste singt (1736), das Lehrgedicht «Sur l’homme» (7 Bücher, 1738), im Geschmack und Geiste Popes, und der «Traité de métaphysique» (1734) und «Éléments de la philosophie de Newton» (1738), worin mit den Argumenten und Entdeckungen Lockes und Newtons in Frankreich das Ansehen des Cartesianismus untergraben wurde. Unterdes stand V. schon seit 1736 mit dem Kronprinzen von Preußen in Briefwechsel, und als dieser 1740 König wurde, bot sich dem Dichter in Berlin eine Zuflucht, der er vorerst nicht zu bedürfen glaubte, da in Versailles ihm wieder ein günstiger Wind wehte. Eifrig strebte V. danach, sich in der Hofgunst zu befestigen, indem er Gelegenheitsverse machte, im «Poème de Fontenoy» (1745) den Sieg der franz. Waffen feierte und im «Temple de la gloire» (1745) und im «Panégyrique de Louis ⅩⅤ» (1748) den König verherrlichte. Er wurde Kammerherr, Hofhistoriograph und Mitglied der Akademie (1746). Dann wandte sich der Hof wieder von V. ab, die Pompadour begünstigte gegen ihn Crébillon (s. d.), und so folgte er endlich im Sommer 1750 der wiederholten Einladung Friedrichs d. Gr. nach Potsdam. In die J. 1740‒50 fallen wieder eine Anzahl von Bühnenwerken: «Zulime» (1740), «Mérope» (1743), eine Tragödie, die außerordentlichen Erfolg hatte, «Sémiramis» (1748), die Komödie «Nanine» (1749), «Oreste» (1750) und «Catilina» (1752). Ferner pries er in der Novelle «Vision de Babouc» die Pariser Civilisation und gab in dem Roman «Zadig ou la destinée» (1747) in einer Darstellung der Willkür des Geschicks seiner damaligen Weltanschauung Ausdruck. Friedrich, an dessen Hofe er von Juli 1750 bis Ende März 1752 weilte, gewährte ihm Wohnung im Schlosse, den Kammerherrenschlüssel, den Orden pour le mérite und 6000 Thlr. Jahrgehalt. Gleichwohl traten bald Zwistigkeiten ein; V. machte sich durch unsaubere Geldgeschäfte mißliebig und erregte den Zorn Friedrichs durch einen nicht unberechtigten Angriff auf Maupertuis, den Präsidenten der Berliner Akademie («Histoire du docteur Akakia et du natif de Saint-Malo», 1752). Über Leipzig, Gotha gelangte V. 1. Juni 1753 nach Frankfurt a. M. Hier wurde er verhaftet und so lange festgehalten, bis ein Bändchen der Gedichte des Königs, das sich bei V.s Gepäck befand, zurückgegeben worden. Er wandte sich darauf, an den «Annales de l’Empire» (2 Bde., 1754) für die Herzogin von Gotha arbeitend, über Mainz, Mannheim, Straßburg, Colmar, Lyon nach Genf (Dez. 1754), wo ihm bald die Geistlichkeit feindlich wurde, und so siedelte V. sich endlich 1758 auf franz. Gebiet an, unweit Genf, zu Ferney (im jetzigen Depart. Ain). Hier, in einem stattlichen Hause, das er sich ausbaute, verlebte er mit seiner Nichte Madame Denis seine letzten 20 Lebensjahre, in denen er noch eine staunenswerte Geistesthätigkeit entwickelte. Noch in Berlin hatte er das bereits in Cirey entworfene «Siècle de Louis ⅩⅣ» (Frankf. 1751) vollendet und in diesem Geschichtswerk besonders die kulturhistor. Seite seiner Aufgabe ins Auge gefaßt; fünf Jahre später (1756) erschien sein «Essai sur les mœurs et l’esprit des nations» (6 Bde.), V.s histor. Hauptwerk, in dem er versucht, in der Weltgeschichte histor. Kritik und pragmatische Betrachtung durchzuführen und den Entwicklungskampf darzustellen, den der Mensch durchgemacht, um zur Bildung zu