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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1757-1777. Franz I., Joseph II.).

standen mit der Wahrheit und dem sittlichen Werte der handelnden Faktoren in so grellem Widerspruch, daß die offene Verhöhnung, die Friedrich der Achtserklärung entgegensetzte, allgemeinen Beifall fand, daß die schmähliche Niederlage der Reichsarmee bei Roßbach (5. Nov. 1757) nicht Unwillen und Entrüstung gegen den Empörer wider Kaiser und Reich erregte, sondern nur Spott und Hohn über das erbärmliche Reichsheerwesen hervorrief, daß sich die deutsche Nation an den Heldenthaten des Preußenkönigs und seiner Soldaten, welche den alten Ruhm deutscher Kraft und deutschen Kriegsmuts weit über die Grenzen Europas hinaus erneuerten, aufrichtete und Nationalstolz und Selbstbewußtsein wiedergewann. Als Preußen nach sieben furchtbaren Kriegsjahren, nach glänzenden Siegen, aber auch schrecklichen Niederlagen erschöpft und aus tausend Wunden blutend, aber ungebeugt im Hubertsburger Frieden (15. Febr. 1763) seinen Besitzstand behauptete, als es sich zeigte, daß die Macht halb Europas diese festgefügte, in Kampf und Not gestählte Monarchie nicht zu bezwingen vermochte, hatte der Staat Friedrichs d. Gr. den Rang einer Großmacht erlangt und sich in D. zu einem Österreich ebenbürtigen Staat emporgeschwungen, welcher den Vorzug, den das erheblich größere Österreich in der Kaiserkrone besaß, durch sein ausgezeichnetes Heer, sein intelligentes Beamtentum und den intensiven Patriotismus seiner Einwohner ersetzte. Hiermit war der Dualismus der beiden deutschen Großmächte, Österreichs und Preußens, begründet, welcher die deutsche Geschichte über ein Jahrhundert beherrscht hat.

Das Ansehen des alten Reichs und seiner Institutionen hatte im Siebenjährigen Krieg den letzten Stoß erlitten. An eine Wiederbelebung des fast toten Körpers ward nicht mehr gedacht. Der Aufschwung, den das deutsche Volk durch Preußens Heldenkampf empfangen, machte sich auf andern Gebieten geltend. Es war D. vergönnt, sich mehrere Jahrzehnte lang ungestört den Werken des Friedens hingeben zu dürfen. So wurden die schweren Wunden geheilt, die der Krieg dem Land geschlagen, die Verluste ersetzt, die der Wohlstand gelitten, und Ackerbau und Gewerbe, Handel und Wandel zu höherer Blüte gebracht. Auch hierbei ging Friedrich II. mit gutem Beispiel voran und spornte andre Regierungen zur Nacheiferung an. Als hervorragendster Repräsentant des "aufgeklärten Despotismus", der alles für das Volk, nichts durch das Volk erreichen wollte, förderte er durch Heranziehung von Kolonisten, durch Entwässerungen und Meliorationen sowie durch eingehende Belehrung, welche sich auf die kleinsten Details erstreckte, den Ackerbau und suchte durch Rechtsschutz und humane Behandlung den Bauernstand aufzumuntern; nichts ist Friedrich d. Gr. von seinem Volk höher angerechnet worden, als daß er den kleinen Mann vor Beamten- und Gutsherrenwillkür schützte und sein Recht achtete. Gewerbe und Handel wurden zwar in etwas einseitiger Richtung begünstigt, da der König dem Merkantilsystem huldigte und die hohen Zölle bei der Zerrissenheit des Staatsgebiets in vieler Beziehung schädlich wirkten; dennoch blühten gewisse Industriezweige in ungeahnter Weise auf, und der Verkehr wurde durch die geordneten Zustände erleichtert. Die Reform der Justiz und die Ausarbeitung des preußischen Landrechts erhoben den preußischen Richterstand auf eine hohe Stufe und machten das preußische Gerichtswesen zu einem Muster für alle andern Staaten. Ebenso ragte die preußische Verwaltung durch Unbestechlichkeit, Intelligenz und freie Geistesrichtung sowie durch unermüdliche Thätigkeit hervor. Die preußische Armee galt seit dem Siebenjährigen Krieg selbstverständlich als die erste der Welt. Wenige Staaten in D. konnten sich dem Einfluß dieses glänzenden Beispiels gänzlich entziehen. Einige, wie Baden, Bayern, die thüringischen Staaten, Anhalt, auch geistliche, wie Kurköln und Kurmainz, bemühten sich, durch bessere Verwaltung das materielle und geistige Niveau ihrer Unterthanen zu heben. Namentlich die Pflege der Künste und Wissenschaften wurde an manchen deutschen Fürstenhöfen geradezu eine Modeliebhaberei, die der Entfaltung der poetischen Nationallitteratur jedoch unschätzbaren Vorschub leistete. Obgleich ein Verächter derselben, hat der Philosoph von Sanssouci ihr indirekt freie Bahn gemacht und ihren Aufschwung befördert, indem er das wahre Menschentum wieder in seine Rechte einsetzte.

Am überraschendsten und deutlichsten wurden die Folgen der Nachahmung der Fridericianischen Staatsweisheit in Österreich sichtbar, wo Maria Theresia, durch schwere Schicksalsschläge geläutert und mit bedeutenden Herrschergaben ausgerüstet, das, was sie von ihrem Feind lernte, mit Klugheit und Energie anwandte, um eine einheitliche Verwaltung, gerechtere Verteilung der Steuern und Lasten, geregelte Finanzen, Erleichterung des Bauernstandes und eine Reorganisation des Heerwesens einzuführen und die Umwandlung Österreichs aus einem Konglomerat von Kronländern mit mittelalterlich-feudaler Verfassung in einen modernen Staat anzubahnen. So reich und unerschöpflich waren die Hilfsquellen Österreichs, daß es sich von den Schäden des Siebenjährigen Kriegs weit rascher erholte als Preußen und auch in militärischer Beziehung ihm ebenbürtig zur Seite trat. Seine diplomatische Situation war sogar weit günstiger als die Friedrichs II., der von allen Seiten beneidet, beargwöhnt und angefeindet wurde. Das Bündnis Österreichs mit Frankreich blieb erhalten, seine Stellung im Reich befestigte sich durch die Erhebung Josephs II. (1765-90) auf den Kaiserthron nach dem Tod Franz' I., und Rußland war bei seinen Unternehmungen gegen die Türkei genötigt, sich Österreichs freundschaftliche Haltung zu sichern. Friedrich dagegen mußte alle seine diplomatische Kunst anwenden, um ohne einen neuen Krieg die preußischen Interessen gegen Rußland zu schützen. Um die völlige Absorption der zerrütteten polnischen Republik durch die moskowitische Großmacht zu verhindern, mußte er sogar eine Annäherung an Österreich suchen, die durch Josephs II. persönliche Verehrung für ihn allerdings erleichtert wurde (1769-71) und zu der ersten Teilung Polens (1772) führte. Was Preußen hierbei erwarb, kam auch D. zu gute: die Vereinigung Westpreußens mit dem preußischen Staat stellte die Verbindung mit Ostpreußen her und befreite dies Land aus einer Isolierung, die wiederholt die Gefahr seines Verlustes heraufbeschworen hatte, und rettete die letzten Reste des Deutschtums in jener ehemals deutschen Kolonie, die zur Zeit des Habsburgers Friedrich III. D. an Polen verloren gegangen war. Österreich erwarb bei der Teilung rein polnische Provinzen. Doch faßte es gleichzeitig eine Verstärkung seiner Macht in D. ins Auge.

Von der Regierung der österreichischen Staaten bis zum Tod seiner Mutter (1780) ausgeschlossen, hoffte Joseph II. im Reich ein dankbares Feld für seinen Ehrgeiz und Feuereifer zu finden. Er versuchte es zuerst mit einer Reform der Reichsverfassung, vor allem der Reichsjustiz; doch blieb die Visi-^[folgende Seite]