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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Volkswirtschaftslehre

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Volkswirtschaftslehre (Begriff, Umfang, Einteilung).

οἰκονομικὴ τέχνη auch politische Ökonomie genannt), eine Wissenschaft, welche sich mit der Darstellung der vielfachen, durch Vergesellschaftung, Tausch und Arbeitsteilung hervorgerufenen Verkettung der Verkehrsinteressen, des wechselseitigen Zusammenhanges und der Abhängigkeit der verschiedenen Wirtschaften voneinander sowie der auf Grund derselben zu beobachtenden Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten befaßt, um auf Grund derselben einen Anhalt für Gestaltung der praktischen Wirtschaft, insbesondere aber der öffentlichen Wirtschaft, bieten zu können. Eine Wirtschaftslehre hätte eigentlich die gesamte schaffende Thätigkeit der Menschen, Erzeugung und Verwendung von Gütern, in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen. Sie würde sich von den Naturwissenschaften dadurch unterscheiden, daß für sie immer die Zweckmäßigkeit der Herstellung der unmittelbar leitende Gesichtspunkt ist. In Wirklichkeit wird aber unter dem Titel V. keine Lehre von der Erzeugung und Verwendung von Gütern gegeben. Allerdings hatten die alten Kameralwissenschaften die Stadtwirtschaft, d. h. das Gewerbewesen, wie auch den Landbau und Bergbau in den Kreis ihrer Erörterungen gezogen. Sie gaben Anleitung, wie zu säen, zu pflügen, Flachs zu bereiten und zu spinnen, Branntwein zu brennen, Essig zu bereiten sei u. dgl., und umfaßten demnach die gesamte Technologie und die Technik der ganzen Urproduktion. Bald aber mußte sich der encyklopädische Charakter einer solchen Behandlung als durchaus ungenügend erweisen. Schon aus diesem Grund mußte die Technik, welche die wirklichen Herstellungsprozesse zum Gegenstand hat, aus dem Kreis der Kameralwissenschaften entfallen, und es verblieb sonach für die V. das oben genannte Gebiet. Dies gab Veranlassung dazu, zwischen Privatwirtschaft auf der einen, Volks- und Staatswirtschaft auf der andern Seite in der Art zu unterscheiden, als ob die Privatwirtschaftskehren im wesentlichen gleichbedeutend mit Gewerbslehren seien, während Staats- und V. nur die Beziehungen der Wirtschaften zu einander betrachteten. Dagegen definierte Hermann (s. d. 3) die Ökonomik als quantitative, die Technik als qualitative Kontrolle und Zuratehaltung bei der Herstellung und Verwendung von Gütern. In Wirklichkeit aber lassen sich die Begriffe Quantität und Qualität nicht voneinander scheiden, insbesondere haben die Qualitäten (Art der Arbeit, Beschaffenheit der Stoffe und Arbeitsinstrumente etc.) für alle Wirtschaftserfolge die größte Bedeutung.

Für den Zweck der litterarischen Darstellung, insbesondere aber im Interesse einer guten Verteilung des Stoffes auf dem Lehrstuhl mit Rücksicht auf die Semestereinteilung, war es in Deutschland üblich geworden, die V. im weitern Sinn in drei Teile zu scheiden und zwar in: 1) die theoretische oder reine V. (Grundlagen oder Grundsätze der V.). Die Thatsache, daß bei der beobachteten Arbeitsteilung auf Grund kapitalistischer Wirtschaftsprüfung die Güter nicht von den gleichen Personen verzehrt werden, welche sie erzeugt haben, daß dieselben vielmehr von Hand zu Hand gehen und hierbei auf Grund der gegebenen Besitzesverhältnisse und der Preisbildung verschiedene Anteile von der Gesamtheit aller Güter auf die einzelnen Glieder der Gesellschaft entfallen, führte dazu, den Stoff in drei bis vier Abteilungen zu trennen. Nachdem man die Grundbegriffe der Wirtschaft erörtert hatte, wurde die Lehre von der Produktion, die Lehre vom Umsatz und der Verteilung, dann die Lehre von der Konsumtion der Güter vorgetragen. In der erstern wurde freilich nicht gezeigt, wie die Güter hergestellt werden, man überließ dies vielmehr der Technologie oder den Gewerbswissenschaften, sondern beschränkte sich nur auf Erörterung der Begriffe Kapital und Arbeit und ihrer Wirkung im allgemeinen. In der zweiten Abteilung wurden Tausch, Kredit und Tauschmittel besprochen und dargelegt, welchen Gesetzmäßigkeiten die Bildung von Lohn, Zins, Gewinn und Rente unterworfen sei. Die dritte Abteilung fiel meist etwas kurz aus, einmal aus dem Grund, weil Erzeugung und Verbrauch der Güter sich gegenseitig so bedingen, daß in den vorausgegangenen Lehren schon manches vorausgenommen worden war, was auch unter dem Begriff der Konsumtion hätte vorgetragen werden können, dann weil der Güterverbrauch selbst sich zum großen Teil der Öffentlichkeit entzieht und, wenn auf die Technik nicht eingegangen werden soll, nur wenig Gelegenheit zu Erörterungen allgemeiner Art über Sparsamkeit, Verschwendung u. dgl. bietet. 2) Die praktische V. (Volkswirtschaftspflege, Volkswirtschaftspolitik, ökonomische Politik). Derselben wurde die Erörterung der Maßnahmen und Anstalten zugewiesen, welche den Gemeinwirtschaften, insbesondere aber der öffentlichen Gewalt, im Interesse der Pflege und Förderung aller wirtschaftlichen Bestrebungen der Staatsangehörigen obliegen. Da hierbei vorzüglich der Staat in Betracht kommt, so gebrauchte man wohl auch die Bezeichnung Staatswirtschaftslehre, welche aber auch noch für den dritten Teil der politischen Ökonomie, 3) die Finanzwissenschaft (s. d.), in Anspruch genommen wurde. Gegen die Dreiteilung blieb freilich einzuwenden, daß Rechtsordnung, Gesetzgebung und Verwaltung von größtem Einfluß auf die Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen Verkehrs und auf die volkswirtschaftliche Verteilung sind, und daß demgemäß die genannte Einteilung zu einer unsachgemäßen Zerreißung zusammengehöriger Stoffe führt. In der Wirklichkeit ist infolgedessen auch nie die genannte Scheidung in Lehrbüchern oder auf dem Katheder in aller Strenge durchgeführt worden. In dem Vortrag über die theoretische Nationalökonomie wird jeweilig von einer bestimmten gegebenen Gestaltung der gesellschaftlichen Verfassung, der Staats- und Rechtsordnung ausgegangen und von diesem Gesichtspunkt aus nicht allein die Gestaltung der wirtschaftlichen Begriffe und Erscheinungen betrachtet, wie sie sich thatsächlich ausgebildet haben, sondern auch Ansichten über Zweckmäßigkeit vorhandener Einrichtungen und Zustände und über Möglichkeit und Notwendigkeit von Änderungen geäußert. Dabei werden Gegenstände, welche bei abstrakter Scheidung der Volkswirtschaftspflege zugewiesen werden müßten, bereits in der theoretischen Nationalökonomie abgehandelt. Die praktische Nationalökonomie ist infolgedessen nichts andres als eine spezialisierte Behandlung einzelner Wirtschaftsarten, Wirtschaftszweige und wirtschaftlicher Anstalten geworden, wie der Forst- und Landwirtschaft, des Handels, Bankwesens u. dgl. Oft wird zur nähern Bezeichnung das Wort Politik in Verbindung mit dem Namen des betreffenden Gebiets oder Gegenstandes gewählt; so spricht man von einer Bank-, Handels-, Münz-, Agrar-, Arbeiter-, Lohn- etc. Politik. Vorwiegend denkt man hierbei allerdings an Aufgaben des Staats, nimmt jedoch oft auch das Wort Politik in einem weitern Sinn, indem alle Bestrebungen und Maßnahmen besprochen werden, welche von allgemeiner Bedeutung sind.

In Geschichte und Litteratur der Volkswirtschaft und der V. pflegt man drei Hauptsysteme zu unterscheiden. 1) Das Merkantilsystem (s. d.) oder