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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Chemie

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Chemie (in der Gegenwart).

mus, d. h. der Eigenschaft gewisser Körper, ohne Änderung der chemischen Beschaffenheit in zwei verschiedenen, nicht auf dieselbe Grundform zurückführbaren Kristallformen aufzutreten. Mitscherlich war auch der erste, welcher im Laboratorium natürliche Mineralkörper aus ihren Bestandteilen künstlich zusammensetzte. Eine wichtige Erweiterung erfuhr aber 1840 die C. durch den Nachweis der sogen. allotropischen Zustände der Körper, indem Schönbein das Ozon entdeckte, welches sich später als ein und derselbe elementare Körper wie der Sauerstoff erwies, aber in einem verschiedenartigen Zustand, begabt mit wesentlich verschiedenen Eigenschaften. Die Untersuchung der anorganischen Körper hat in dieser Zeit die Zahl der Elemente außerordentlich vermehrt; die Mehrzahl wurde in dem Stockholmer Laboratorium entdeckt, 1817 durch Berzelius das Selen, durch Arfedson das Lithion, durch Stromeyr ^[richtig:Stromeyer] und Hermann das Kadmium; 1823 gewann Berzelius aus Fluorkieselkalium mittels Kaliums das Silicium, 1824 derselbe aus Fluorzirkon das Zirkonium, 1828 Wöhler aus den wasserfreien Chlormetallen das Aluminium, Beryllium, Yttrium. Durch das Zusammenwirken dieser Chemiker, vor allen aber durch Berzelius, der alles Bekanntwerdende zusammenfaßte und systematisch ordnete, wurde die anorganische C. zu dem in sich abgeschlossenen Ganzen entwickelt, als das sie gegenwärtig unsre Lehrbücher mitteilen.

Weitere Förderung hat die C. ganz besonders durch das Studium der organischen oder Kohlenstoffverbindungen gefunden, welches erst nach der Verbesserung der Elementaranalyse durch Gay-Lussac und Thénard und der dadurch ermöglichten Anwendung der stöchiometrischen Gesetze auf organische Verbindungen, die zuerst 1814 durch Berzelius versucht ward, erfolgreich werden konnte. Anfänglich schien es unmöglich, die Ansichten, welche die Grundlage der anorganischen C. bildeten, auch auf die organische anzuwenden. Indes hatte doch schon Lavoisier ausgesprochen, daß sich der Sauerstoff mit einem Element zu einer anorganischen, mit einem "zusammengesetzten Radikal" zu einer organischen Verbindung verbinde. Gay-Lussacs Arbeit über das Cyan gab dem Begriff des Radikals eine bestimmtere Bedeutung, und dann versuchte man mehr und mehr, den Dualismus auch auf die Kohlenstoffverbindungen anzuwenden. Die organische C. ward jetzt die C. der zusammengesetzten Radikale; aber erst durch Liebigs und Wöhlers glänzende Untersuchungen über das Bittermandelöl und die damit verwandten Verbindungen wurde die Lehre vom Radikal vollkommener ausgebildet. Unter Radikal verstand man nun eine Atomgruppe, welche als nicht wechselnder Bestandteil in einer Reihe von Verbindungen auftritt, sich wie ein Element mit andern Elementen verbindet, in diesen Verbindungen sich ersetzen läßt durch andre einfache Körper und ohne Zersetzung übertragbar ist in andre Verbindungen. Durch diese Arbeiten wurde der organischen C. die gebührende Selbständigkeit gesichert. Die Entdeckung des Dimorphismus, der Isomerie, Metamerie und Polymerie regte zu weitern Studien über die Konstitution der Körper an, und besonders wurden die Äthylverbindungen Gegenstand lebhafter Debatten im Sinn der Radikaltheorie. Dumas (1800-1884), Liebig (1803-73) und Wöhler (1800-1882) führten seit 1823 die organische C. zur glänzendsten Entwickelung; Liebig vor allen beherrschte als die erste Autorität und als der größte Chemiker seiner Zeit die ganze geistige Strömung, sein Laboratorium in Gießen war der Anziehungspunkt für die strebsamsten Chemiker des In- und Auslandes, und zahlreiche Untersuchungen der wichtigsten Art, welche aus diesem Laboratorium hervorgingen, bekunden die fruchtbare Anregung, welche Liebig nach allen Seiten hin zu geben verstand. Die Anschauungen in der organischen C. gewannen nun zunächst eine wesentliche Wandlung durch die Entdeckung des Substitutionsprozesses, welche besonders durch Dumas, Peligot, Regnault, Malaguti und Laurent verfolgt wurde. Laurent knüpfte daran seine Kerntheorie, welche Gmelin seinem großen Lehrbuch zu Grunde legte; Liebigs und Grahams Arbeiten über die mehrbasischen Säuren wurden aber die Basis, auf welcher Dumas, der inzwischen auch die Chloressigsäure entdeckt hatte, seine Typentheorie errichtete. Durch diese Theorie vollzog sich der Bruch mit der von Berzelius aufgestellten dualistischen Anschauungsweise. Man hatte erkannt, daß in einer organischen Verbindung elektropositiver Wasserstoff durch elektronegatives Chlor vertreten werden kann, ohne daß die Natur der Verbindung dadurch wesentlich verändert wird, und somit ergab sich, daß die Eigenschaften der Körper weit mehr durch die eigentümliche Lagerung der Atome als durch deren Natur bedingt werden. Die Typentheorie fand in der Folge mehrfach weitere Ausbildung und beherrschte eine Reihe von Jahren hindurch die gesamte Forschung, welche durch sie in der fruchtbarsten Weise geleitet wurde. Der nächste große Fortschritt wurde aber durch die von Laurent und Gerhardt veranlaßte Revision der Atomgewichte herbeigeführt. Der Begriff des Atoms war in der letzten Zeit ein sehr unsicherer geworden, und die Gmelinsche Schule nahm stöchiometrische Zahl, Äquivalent, Mischungsgewicht und Atomgewicht für gleichbedeutend. Laurent unterschied aber in scharfer Weise Atom, Molekül und Äquivalent, und als man dann erkannte, daß die Atome nicht äquivalent, sondern verschiedenwertig sind, gelangte man zur Atomizitätstheorie und zur Bestimmung der rationellen Konstitution der Körper in dem heutigen Sinn. Die Arbeiten von Kekulé, Frankland, Berthelot, Hofmann, Wurtz und zahlreichen jüngern Chemikern haben zum Ausbau dieser Theorien mächtig beigetragen, und wir sehen gegenwärtig die C. in einem Fortschritt begriffen, welchem auf allen Gebieten gleichmäßig zu folgen selbst dem Fachmann schwer wird. Einen der glänzendsten Punkte der neuern C. bildet die von Kekulé 1867 begründete Theorie der aromatischen Verbindungen, welche das vorhandene Material systematisch zu ordnen erlaubte und eine Fülle neuer Thatsachen brachte, welche zum Teil durch die Theorie vorhergesehen waren. Wie weit Übereinstimmung zwischen Theorie und Thatsachen hier vorhanden ist, zeigt sich z. B. daran, daß gerade und nur die zwölf vorhergesehenen Chlorbenzole haben dargestellt werden können. Für die Technik wurde die Theorie insofern höchst bedeutungsvoll, als sie auf die Entwickelung der Teerfarbenindustrie unverkennbaren Einfluß ausübte. Die überwiegende Zahl der Chemiker widmete sich in der neuesten Zeit der Erforschung der Konstitution der Körper und wurde hierin nicht nur durch die fortgeschrittene theoretische Erkenntnis, sondern auch durch die Anwendung der Synthese wesentlich gefördert, deren Bedeutung für die organische C. Berthelot nachdrücklich betont hatte. Er gewann durch Synthese Ameisensäure, Alkohol und Benzol, Kolbe die Essigsäure, Volhard das Kreatin, Zinin das Senföl, Haarmann und Tiemann das Vanillin, Baeyer das Pikolin und den Indigo, und von andern wurden Methoden ausgearbeitet, welche die Synthese ganzer

^[Artikel, die unter C vermißt werden, sind unter K oder Z nachzuschlagen.]