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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Charton

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Chartismus - Charton.

Schon vor der Reformbill von 1832 hat es in England nicht an Agitationen demokratischer Vereine für das allgemeine Stimmrecht, für geheime Abstimmung und jährliche Parlamente gefehlt; aber der C. hat doch seinen eigentlichen Ausgangspunkt in der Reformbill von 1832 und dem 1837 in London gegründeten Arbeiterverein Working men's Association. Nach der Reformbill von 1832 verhielten sich die Anhänger jener Forderungen noch jahrelang ruhig in abwartender Stellung; als aber das reformierte Parlament noch weniger als das frühere eine Arbeiterschutzgesetzgebung begünstigte und die radikalen Parlamentsmitglieder mit ihren Versuchen, eine weitere Ausdehnung des Stimmrechts herbeizuführen, stets in einer verschwindenden Minorität blieben, erfolgte 1837 die Bildung jenes Arbeitervereins, um für eine Vertretung der Arbeiter im Parlament und für eine Neuordnung der Gesellschaft im Arbeiterinteresse zu agitieren. Der Verein, geleitet von Lovett, gründete Provinzialvereine und trat in Verbindung mit den radikalen Parlamentsmitgliedern (Roebuck, Joseph Hume, O'Connell u. a.). Aus den Verhandlungen ging 1838 die Volkscharte hervor, die sofort auch von den zahlreichen im Land existierenden demokratischen Vereinen als Programm acceptiert wurde.

Das Haupt des C. wurde jetzt und blieb während der ganzen Dauer des C. O'Connor. Die energische Agitation der Chartisten für die Wiedereinführung des 1834 aufgehobenen Elisabethschen Armengesetzes und die Zehnstundenbewegung führten dem C. die Arbeiter in großen Massen zu. Zahlreiche Zeitschriften mit grobem Absatz entstanden, von denen das Organ O'Connors mit einer Auflage von 50,000 das populärste war, ungeheure Volksversammlungen (nicht wenige mit über 200,000 Teilnehmern) wurden überall abgehalten, und eine Massenpetition an das Parlament um Einführung der Charte wurde vorbereitet. Die Chartisten spalteten sich aber sofort in zwei Parteien, in die der physischen Gewalt unter O'Connor, Stephens u. a. und die der moralischen Gewalt unter Lovett. Der Gegensatz der Parteien kam zum heftigen Ausbruch in dem am 4. Febr. 1839 in London zusammengetretenen "nationalen Konvent" der Chartisten, der als Arbeiterparlament neben dem Parlament tagte. O'Connor und seine Partei siegten über die Partei der moralischen Gewalt. Die Versammlungen der Chartisten nahmen schon seit dem Spätherbst 1839 einen bedrohlichen Charakter an, sie wurden abends und nachts gehalten, man kam bewaffnet zu ihnen und predigte offen die Rebellion. Als das Parlament es 12. Juli 1839 mit 237 gegen 148 Stimmen ablehnte, die Petition, welche 1,280,000 Unterschriften erhalten hatte, in Erwägung zu ziehen, kam es zu blutigen Zusammenstößen, namentlich 15. Juli in Birmingham, dem damaligen Hauptsitz der Bewegung, zu einem Aufstand, bei dem über 30 Häuser in Brand gesteckt wurden, der aber bald unterdrückt ward. Die Regierung ging energisch gegen die Führer vor, gegen 380 wurden im Land verhaftet und mit wenigen Ausnahmen zu Gefängnis von 1 Monat bis zu 2 Jahren verurteilt. Der Versuch der Chartisten, 3. Nov. 1839 die Gefangenen in Newport zu befreien, mißglückte. Die Gefahr des C. war durch die Energie der Regierung beseitigt.

Bei Beginn 1840 schien die Chartistenbewegung, deren Führer sämtlich im Gefängnis saßen, zu Ende. Aber sie begann bald von neuem. Am 20. Juli 1840 wurden alle lokalen Vereine zu einer großen Association, "Nationale Chartistenassociation von Großbritannien", vereinigt. In ihr gelangte zunächst die gemäßigte Partei ans Ruder. Es wurde ausdrücklich beschlossen, nur friedliche und konstitutionelle Mittel anzuwenden, um die Charte zum Landesgesetz zu machen. Eine neue Petition, angeblich mit 3,300,000 Unterschriften, wurde dem Parlament überreicht, aber mit 287 gegen 89 Stimmen verworfen. Das hatte zur Folge, daß die radikale Partei der Chartisten wieder die Oberhand bekam. Die Hauptthätigkeit der Chartisten bestand jetzt längere Zeit darin, Streiks zu veranlassen, um Forderungen gegen die Fabrikanten durchzusetzen. Aber die Erfolge waren meist gering. Infolgedessen ließ die öffentliche und politische Chartistenbewegung allmählich nach, und man beschäftigte sich mehr mit den phantastischen Landplänen O'Connors, die den Arbeitern zu Landbesitz verhelfen wollten.

Noch einmal zeigte sich eine starke Chartistenbewegung im Jahr 1848. Die Februarrevolution erregte mächtig die Chartistenkreise. Die Agitation für die Charte begann überall von neuem, die Führer, O'Connor vor allen, forderten die Massen offen zur Revolution auf und vertraten jetzt auch entschieden republikanische Ideen. Zunächst sollte eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte Petition für die Charte an das Parlament gerichtet und nach einer großen Volksversammlung 10. April in Prozession ins Parlament getragen werden. Als aber die Regierung die energischten Vorkehrungen traf, um den ungesetzlichen Zug zu verhindern, scheute O'Connor vor dem unvermeidlichen blutigen Zusammenstoß zurück. Der Zug unterblieb, O'Connor verteidigte in der Volksversammlung 10. April, in der statt der erwarteten 100,000 Männer nur ca. 30,000 erschienen, selber die Unterlassung desselben. Die Petition, die nach der Angabe O'Connors von 5,700,000 Personen unterschrieben sein sollte, wurde in gewöhnlicher Weise dem Parlament überreicht. Bei näherer Prüfung derselben wurde festgestellt, daß dieselbe noch nicht 2 Mill. Unterschriften hatte und von diesen viele teils gefälscht waren, teils von Frauen herrührten. Diese Petition war die letzte That der Chartisten. O'Connors Einfluß auf die Massen war durch seinen Rückzug gebrochen, und der C. hörte auf, ein Gegenstand des Schreckens zu sein. Die nationale Chartistenassociation bestand zwar noch eine Reihe von Jahren fort, verlor aber mehr und mehr an Bedeutung. Die Arbeiter wandten sich mit der zunehmenden Erstarkung der Trades' Unions und mit der steten Verbesserung ihrer Lage infolge der Fabrikgesetzgebung vom C. ab; O'Connor selbst starb im Irrenhaus, eine Chartistenpartei existiert heute nicht mehr.

Vgl. Carlyle, On chartism (Lond. 1839); Léon Faucher, Études sur l'Angleterre (Par. 1845, 2 Bde.); Harriet Martineau, History of England etc. (Lond. 1851, 2 Bde.); Pauli, Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen von 1814 und 1815 (Leipz. 1864-75, 3 Bde.); Ludlow und Jones, Progress of the working class 1832-67 (Lond. 1867); L. Brentano, Die englische Chartistenbewegung (in "Preußische Jahrbücher", Bd. 33, 1874).

Charton (spr. schartóng), Edouard, franz. Schriftsteller, geb. 11. Mai 1807 zu Sens, ward mit 20 Jahren Advokat in Paris, 1829 Chefredakteur des "Bulletin de la Société pour l'instruction élémentaire" und des "Journal de la morale chrétienne" und gründete 1833 das von ihm noch heute geleitete "Magasin pittoresque". Nach der Revolution von 1848 ward er Generalsekretär des Unterrichtsministeriums sowie Mitglied der Gesetzgebenden Versammlung,

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