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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Geschütz

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Geschütz (Geschichtliches).

hatte sich das Geschützwesen schon bedeutend entwickelt und gelangte im 16. Jahrh. bereits zu einer gewissen künstlerischen Blüte. Der Hang zum Ungeheuerlichen führte zu den bekannten Riesengeschützen (die "faule Grete" des Kurfürsten von Brandenburg 1414, "Taube", "Ungnade", der "Hahn", die "böse Else", "zwölf Apostel"), zu denen in neuester Zeit die italienische 100 Tons-, die englische 80 Tons- und Krupps 40 cm Kanone hinzutreten, jedoch mit dem Unterschied, daß diese Geschütze ihrer Größe Entsprechendes leisten, was bei den alten Riesengeschützen nicht der Fall war. Nach und nach kam etwas System in das Kaliber, namentlich unter Maximilian zu Anfang des 16. Jahrh., so daß sich gewisse Gruppen, wie Kartaunen und Feldschlangen (s. d.), unterscheiden lassen. Man legte einen großen Wert auf die Ausschmückung des Rohrs durch Ziselierungen, Reliefdarstellungen, besondere, oft sehr phantastische Gestaltung der Henkel und Traube. Nebenbei ist das Bestreben, Hinterladungsgeschütze zu konstruieren, niemals ganz eingeschlafen. Durch zahlreiche Versuche, namentlich seit Anfang des 18. Jahrh., wurden mit den Kalibern auch die Einzelheiten der Rohrkonstruktion, wie Länge der Seele, Metallstärke, Stellung des Zündlochs etc., festgestellt und an unsre Zeit überliefert.

Eine neue Zeit des Geschützwesens beginnt 1840 mit der vom schwedischen Baron v. Wahrendorff, Besitzer der Eisengießerei zu Aker: der für die meisten europäischen Staaten eiserne Geschützrohre goß, ausgeführten Herstellung eines glatten Hinterladers. Zweck der Hinterladung war, die Bedienung des Geschützes in Kasematten zu erleichtern. Während die Hinterladung durch die Reihe der Jahrhunderte an den unvollkommenen technischen Mitteln, vorzugsweise zur Herstellung einer genügenden Liderung, scheiterte, gelang es Wahrendorff, diese Schwierigkeit durch den nach und nach verbesserten Kolbenverschluß, der bei dem 9 cm Feldgeschütz der deutschen Artillerie zur Einführung gelangte, zu beseitigen. 1846 wurde Wahrendorff durch den italienischen Artilleriekapitän Cavalli angeregt, sein Rohr mit Zügen zu versehen. Letzterer setzte 1847 diese Versuche, bei denen er Geschosse mit zwei Ailetten und zwei Flügeln verwendete, in Turin fort. Die Züge hatten fast genau die Form der jetzigen Woolwich-Züge. Sie wurden 1856 in Frankreich durch die unter La Hittes Vorsitz zusammengetretene Kommission bei dem oben beschriebenen La Hitte-System eingeführt. In Rußland, Italien, Schweden, Dänemark, Belgien wurde um 1860 dies System angenommen. 1852 wurde das Lancaster-Geschütz, dessen Querschnitt elliptisch und dessen Geschoß ein Ellipsoid war, versucht, das dann im Krimkrieg seine Unbrauchbarkeit darthat. Seine Seele war in der Art gewunden, daß die große Achse der Ellipse am Rohrboden senkrecht stand, an der Mündung wagerecht lag. Darauf (1854) fiel die englische Artillerie in die Hände von Privatfabrikanten. 1860 wurde, nachdem die Fabrikanten die öffentliche Meinung für sich gewonnen hatten, das Armstrong-Geschütz eingeführt. Der Rückschlag trat nur zu schnell ein und wurde durch die gänzliche Unbrauchbarkeit der schweren Armstrong-Marinehinterlader nach kurzem Gebrauch herbeigeführt. Man behauptete nun, es sei unmöglich, einen genügenden Hinterladungsverschluß herzustellen, und ging zum Vorderlader über, nach welchem System unter Anwendung des Fraser- und Woolwich-Rohraufbaues (s. oben) bisher alle schweren Marine- und Küstengeschütze gefertigt wurden. Die französischen La Hitte-Kanonen erwiesen sich im italienischen Feldzug 1859 den glatten Geschützen so überlegen, daß sie der Impuls und das Vorbild für die Einführung gezogener Kanonen in den meisten Staaten wurden.

In Preußen wurden die Versuche mit gezogenen Kanonen im Frühjahr 1851 begonnen und dabei das Wahrendorffsche Rohr mit der Modifikation zu Grunde gelegt, daß die Seele flache Züge erhielt und ein Langgeschoß mit Bleimantel zur Kompressionsführung angewendet wurde. Auf den Grundzügen dieser Konstruktion ruht unsre heutige Artillerie. Die ersten Versuchsrohre waren aus Gußeisen, dann aus Bronze, 1856 aus Gußstahl. 1859 gelangte dies System zur Einführung. Auch die Kruppsche sogen. Riesenkanone der Pariser Ausstellung von 1867, von 36 cm Kaliber, wie das gegenwärtig größte Kruppsche Geschütz, die 40 cm Kanone (s. Tabelle S. 220), fußen auf demselben. Es ist auch unter erheblichen Schwierigkeiten gelungen, in gleicher Weise gezogene Hinterladungsmörser herzustellen. Österreich mußte nach den Erfahrungen von 1859 gezogene Geschütze einführen, konnte sich indes nicht für das La Hittesche System mit seiner schlotternden Geschoßführung entscheiden, wollte aber auch nicht ein Nachahmer Preußens sein und nahm deshalb 1863 das Lenksche Bogenzugsystem an. Über die um diese Zeit in Preußen nach dem Vorgang Frankreichs und Sachsens eingeführten Granatkanonen s. d.

Gleichzeitig mit Armstrong trat, als dessen bedeutendster Konkurrent, Whitworth mit einer eigenartigen Geschützkonstruktion auf. Die Seele seines aus Gußstahl gefertigten Rohrs zeigt im Querschnitt ein regelmäßiges Sechsseit mit abgerundeten Ecken und hat den ungewöhnlich starken Drall von zwei Umdrehungen auf die Rohrlänge. Das Geschoß ist drei Kaliber lang; die Pulverladung befindet sich in einer metallenen Hülse, welche gleichzeitig zur Liderung dient. Dieses G. wurde in Nordamerika eingeführt, aber 1862 durch die Parrot-Kanonen verdrängt. Dies sind Vorderladungsrohre aus Gußeisen, deren Bodenstück mit einem schmiedeeisernen Coil gepanzert ist. Die Geschosse, fast drei Kaliber lang, erhalten ihre Führung durch einen kupfernen oder bleiernen Expansionsring an der Kante des Geschoßbodens. Neben diesen sind noch glatte und gezogene Geschütze nach Konstruktionen von Rodman, Dahlgren und Ames eingeführt worden, die allesamt gleich schlecht sind. Während des Bürgerkriegs zersprangen 259 schwere Rohre, darunter 60 gezogene Parrot-100-Pfünder, 17 glatte 15zöllige Rodman-Kanonen, so daß sich Nordamerika in der Lage befindet, eine ganz neue Artillerie einführen zu müssen, was bei den herrschenden Parteiinteressen sehr schwer ist. - Das von Ames angewendete Fabrikationsverfahren, runde Scheiben aus drei konzentrischen schmiedeeisernen Ringen herzustellen und solche Scheiben nach Bedarf für die Rohrlänge aneinander zu schweißen, ist in England von Macomber durch ein eigentümliches Preß- und Walzverfahren verbessert worden. Das um 1865 in Nordamerika konstruierte Accelerationsgeschütz, in neuester Zeit durch Lyman-Haskell ebenso erfolglos wieder versucht, ging aus der Idee hervor, dem Geschoß im Rohr eine steigende Geschwindigkeit zu geben. Zu diesem Zweck waren in gewissen Abständen Nebenkammern, die mit der Seele kommunizierten, angebracht, deren Ladung durch das Feuer der eigentlichen Geschützladung entzündet wurde, sobald das Geschoß darüber hinweg war. Die den Belagerungsgeschützen durch ihre Transportfähigkeit gesteckte Gewichtsgrenze beschränkt auch