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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1797-1810).

welcher eine Reihe von Produktionen begann, die in dem gleichfalls unvollendeten Drama "Die natürliche Tochter" gipfelten. Goethes wachsende Abneigung gegen den Stoffhunger des deutschen Publikums, eine gewisse akademisch-formalistische Bewunderung der Antike und die Einflüsse einzelner Künstler in seiner Umgebung (namentlich Heinrich Meyers) ließen ihn zu einseitiger Betonung der dichterischen Form gelangen. Übrigens bedurfte es bei ihm auch jetzt nur noch des starken Anstoßes aus dem persönlichen Erlebnis, um die alte Wärme und Fülle seiner Dichtung wiederum zu erreichen. Zwischen den Jahren 1796 und 1810 war Goethes vorwaltendes Interesse der Leitung des weimarischen Hoftheaters zugewandt. Bei der Beschränkung der Mittel und Talente, die ihm hier zu Gebote standen, legte er den Hauptnachdruck auf ein vorzügliches Ensemble und die Durchbildung der plastisch-deklamatorischen Seite der Schauspielkunst, für welche die Weimarer Schule vorbildlich ward. So gelang es, alle Dramen Schillers, eine Reihe Shakespearescher Werke, einzelne litterarisch interessante Dramen zur Aufführung zu bringen und nach außen hin gebietend und maßgebend aufzutreten. In "Ermangelung des Gefühls eigner Produktion" stattete G. sein Theater mit Bearbeitungen von Voltaires "Mahomet" und "Tancred" aus (womit er der alten Vorliebe des Herzogs für die französische Litteratur huldigte). Nach Schillers Tod (1805) versuchte er durch das Interesse an den Schöpfungen Zacharias Werners, Th. Körners seine absterbende Neigung für die Bühne lebendig zu erhalten. Die Wunde, die ihm Schillers frühes Scheiden schlug, war noch nicht vernarbt, als die Ereignisse von 1806 in Goethes Leben tief eingriffen. Unter dem Tumult der Plünderung Weimars nach der Schlacht bei Jena ließ G. sich mit der "kleinen Freundin", Christiane Vulpius, (19. Okt. 1806) trauen. Er glaubte dies der Zukunft seines Sohns schuldig zu sein. Wenige Monate später hatte er in schweren innern Kämpfen für den spät gefaßten Entschluß einzustehen. In die Jahre 1807 und 1808 fiel eine tiefe Neigung und Leidenschaft für Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Frommannschen Hauses zu Jena. Als Nachklang der innern Erlebnisse dieser Zeit ist der Roman "Die Wahlverwandtschaften" (Tübing. 1809), der letzte Roman Goethes, von hoher, fast allzu strenger Kunstvollendung, von schmerzlicher, tragischer Tiefe des Inhalts, anzusehen. Die Jahre zwischen 1807 und 1813 wurden von G. anders durchlebt als von Karl August und den meisten Deutschen. Bei aller vaterländischen Gesinnung, welche man ihm umsonst hat absprechen wollen, war der Dichter von der dämonischen Größe Napoleons (welcher G. übrigens auf dem Erfurter Kongreß Ende 1808 große Auszeichnung erwies) ergriffen und befangen und teilte den Haß gegen den französischen Imperator nicht. Seit 1806 begann G. eine neue Gesamtausgabe seiner Werke (welche nun vollständig in den Verlag der J. G. ^[Johann Georg] Cottaschen Buchhandlung in Stuttgart und Tübingen übergingen) zu publizieren. Für die Herausgabe derselben brachte er auch den ersten Teil des "Faust" zum Abschluß. In dieser Dichtung hat Goethes dichterisches Schaffen seinen Gipfelpunkt erreicht; ja, sie darf unbedingt als das Gewaltigste und Bedeutendste, was deutsche Poesie überhaupt hervorgebracht, betrachtet werden. In der dramatischen Behandlung des echt nationalen Stoffes ist das Gewicht der ursprünglichen dichterischen Anlage und die nachhaltige Kraft der ersten Intuition so gewaltig, daß die fragmentarische, über viele Jahre hingezogene Ausarbeitung wenigstens im ersten Teil des "Faust" nicht merkbar ist. "Das Gewaltige und durchaus Unvergleichliche der Fausttragödie ist, daß sie nicht diese oder jene vereinzelte tragische Verwickelung des Menschenlebens aufgreift, sondern den innersten bestimmenden Nerv aller Menschentragik, den unlösbaren Widerspruch der dämonischen Ikarusnatur, die nach der Sonne strebt und doch fest an die Erdenschranken gebannt ist. Und die unvergleichliche Tiefe und Weite der Grundidee kommt zu unvergleichlich vollendetem Ausdruck durch eine Macht und Tiefe der gestaltenden Phantasie und Sprachgewalt, deren Fülle und Zauber sich kein fühlendes Herz entziehen kann." (Hettner) Von höchster Bedeutung war das Erscheinen des "Faust" gerade in dieser Zeit (1808), einer Bedeutung, welche H. v. Treitschke ("Deutsche Geschichte") mit den Worten hervorhebt: "Als anderthalb Jahrzehnte früher einige Bruchstücke daraus erschienen waren, hatte niemand viel Aufhebens davon gemacht. Und doch schlug das Gedicht jetzt ein, unwiderstehlich wie einst der Werther, als wären diese Zeilen, über denen der Dichter alt geworden, erst heute und für den heutigen Tag ersonnen. Die bange Frage, ob es denn wirklich aus sei mit dem alten Deutschland, lag auf aller Lippen, und nun, mitten im Niedergang der Nation, plötzlich dies Werk, ohne jeden Vergleich die Krone der gesamten modernen Dichtung Europas, und die beglückende Gewißheit, daß nur ein Deutscher so schreiben konnte, daß dieser Dichter unser war und seine Gestalten von unserm Fleisch und Blut."

Seit der Publikation des ersten Teils vom "Faust" und der ersten Cottaschen Gesamtausgabe begann die kleine Gemeinde, welche in G. den ersten Dichter der Nation erkannte und verehrte, stetig zu wachsen. G. selbst isolierte sich mehr und mehr. Er, der schon als junger, lebensmutiger und gewaltig strebender Mann den Gegensatz seiner Welt zur Welt des Tags empfunden hatte ("ich fühlt's so inniglich", schrieb er 1777 bei Gelegenheit eines Besuchs von Melchior Grimm in Eisenach in sein Geheimtagebuch, "daß ich dem Manne nichts zu sagen hatte, der von Petersburg nach Paris geht"), führte jetzt "die Mauer um sein Wesen noch einige Schuh) höher auf". Unablässig fuhr er fort, Bildungsstoff von allen Seiten in sich aufzunehmen und ihn zu verarbeiten. Er forschte in den Litteraturen des Auslandes und aller Zeitalter. Gerade als das deutsche Volk sich gegen die französische Fremdherrschaft erhob, hatte er sich in den fernen Orient geflüchtet und, durch J. ^[Joseph] v. Hammers Hafis-Übersetzung angeregt, das Studium des Arabischen und Persischen begonnen, aus welchem er eine Erfrischung seiner lyrischen Produktion gewann, deren Früchte wir in der an dichterischen Schönheiten reichen Sammlung, die den Titel "Westöstlicher Diwan" (1819) trägt, besitzen. Daneben erlitten die naturwissenschaftlichen Forschungen keine Stockung. Die "Farbenlehre" war bereits 1810 nach langer, mühevoller Arbeit, welche bei der Welt freilich wenig Dank fand, zum Abschluß gebracht. Zu mineralogischen Untersuchungen boten vorzüglich die 1806-13 fast alljährlich unternommenen Reisen nach Karlsbad Anlaß und Gelegenheit. In der Muße des Badelebens fand er auch die Muse williger als sonst. So erwuchs aus derselben der Plan zu "Wilhelm Meisters Wanderjahren", aus dem sich eine Anhäufung kleiner Novellen gestaltete, welche einer eigentlichen innern Einheit entbehren. In dem dramatischen Bruchstück "Pandora" (1807) sollte "die aus lebendigster Erinnerung des genossenen Glückes quellende Sehnsucht