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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte 1762-1787).

In der innern Verwaltung des Reichs waren die Brüder Iwan und Peter Schuwalow Elisabeths vorzüglichste Ratgeber. Zunächst wurde der lange Zeit in den Hintergrund gedrängte Senat Peters d. Gr. wiederhergestellt, die den Handel und die Industrie behindernden Zölle innerhalb des Reichs aufgehoben, die Außenzölle dagegen erhöht; die fremde Einwanderung, namentlich die von Serben in den südlichen Steppen, wurde befördert, 1755 in Moskau die erste russische Universität, 1758 die Akademie der Künste in Petersburg gegründet und die Akademie der Wissenschaften daselbst (seit 1726 bestehend) reorganisiert. Auch einige Gymnasien wurden errichtet. Prächtige Bauten, wie das Winterpalais in Petersburg, der Palast und die Kirche zu Zarskoje Selo, erhoben sich, das erste russische Theater ward eröffnet. Französische Sitten und Gebräuche wurden ebenso wie die französische Sprache am Petersburger Hof herrschend.

Nach Elisabeths Tod (5. Jan. 1762) folgte ihr der Sohn von Peters d. Gr. zweiter Tochter, Anna Petrowna, der Herzog Peter von Holstein-Gottorp, als Peter III. Derselbe, ein ebenso leidenschaftlicher Verehrer Friedrichs d. Gr., wie Elisabeth eine Feindin desselben gewesen war, schloß nicht nur sofort mit Preußen Waffenstillstand, sondern 5. Mai auch ein Schutz- und Trutzbündnis, bewog auch Schweden, Frieden zu schließen, räumte Pommern und Ostpreußen ohne jede Entschädigung und schickte Friedrich ein Hilfsheer. Diese Preisgebung aller in dem langen und kostspieligen Krieg errungenen Vorteile erregte im Heer Unzufriedenheit, die Peter III. durch übereilte Neuerungen im Heerwesen steigerte. Da er gleichzeitig die Geistlichkeit durch Reformen in ihrem Einfluß beeinträchtigte, so entstand allgemeine Unzufriedenheit, die seine Gemahlin Katharina, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die in gespanntem Verhältnis mit ihm lebte, und die er mit Scheidung und Verweisung in ein Kloster bedroht hatte, benutzte, um ihn durch einen Militäraufstand 9. Juli 1762 vom Thron zu stoßen; der gestürzte Zar wurde 17. Juli im Schloß Ropscha von einigen Verschwornen ermordet.

Die Regierung Katharinas II. (1762-96).

Katharina II., als Kaiserin und Selbstherrscherin proklamiert, widmete sich anfangs besonders der innern Verwaltung des Reichs. Als Anhängerin der damals herrschenden Aufklärung wollte sie Rußland der westlichen Kultur öffnen und alle materiellen und geistigen Kräfte zur vollsten Entwickelung bringen. Sie teilte das Reich von neuem in 50 Gouvernements, die wieder in Kreise zerfielen, und zog auch Kleinrußland und das Gebiet der Saporogischen Kosaken in diese Einteilung. Eine neue Städteordnung (1785) setzte an die Spitze der Städte einen Rat, der aus dem von den Bürgern gewählten Stadthaupt (Bürgermeister) und mehreren Mitgliedern bestand. Die Kaufleute wurden in drei Gilden, die Handwerker in Innungen oder Zünfte geteilt, die Vorrechte des Adels festgestellt und bestätigt. Um das höchst mangelhafte Justizwesen zu verbessern, berief Katharina, welche auch die Tortur abschaffte, 1766 eine Kommission rechtsverständiger Mitglieder aus allen Provinzen, um ein neues Gesetzbuch auszuarbeiten, das aber nicht vollendet wurde. Die Kirchengüter zog sie ein und ließ sie durch eine eigne Behörde, das Ökonomiekollegium, verwalten, welches den Geistlichen einen bestimmten Gehalt zahlte und den Überschuß der Einkünfte für wohlthätige Zwecke verwendete. Sie gründete Armen-, Kranken- und Findelhäuser und führte die Kuhpockenimpfung ein. Ihre religiöse Duldung zeigte sie den Raskolniken gegenüber, und Künste und Wissenschaften fanden bei ihr freigebige Unterstützung. Gelehrte und Künstler wurden zu ihrer Ausbildung ins Ausland gesandt, die geistlichen Seminare vermehrt und erweitert, Gymnasien und Militärschulen errichtet, sogar 1783 eine russische Akademie zur Ausbildung der nationalen Sprachen gestiftet; in allen bedeutenden Städten und in vielen kleinern Ortschaften wurden Volksschulen eingerichtet, für welche die nötigen Lehrer in einem zu diesem Behuf 1778 geschaffenen Oberschulkollegium gebildet wurden. Gleich im ersten Jahr ihrer Regierung lud Katharina durch ein Manifest Ausländer zur Niederlassung in ihrem Reich ein und setzte 25. Juli 1763 zur Leitung der Kolonisation eine eigne Behörde nieder; in den Gouvernements Petersburg und Saratow siedelten sich auch zahlreiche deutsche Einwanderer an. Für Hebung der Industrie und des Handels sorgte sie durch Abschaffung vieler Monopole und Vermehrung der Wertzeichen, durch Förderung der Schiffahrt und durch Handelsverträge mit den auswärtigen Staaten. Nicht immer und überall wurden ihre guten Absichten gewürdigt, vielmehr rief die Unzufriedenheit mit manchen Neuerungen wiederholt Unruhen hervor, unter denen der Aufstand Pugatschews (s. d.) 1773-74 wirklich gefährlich wurde.

In der auswärtigen Politik richtete Katharina zunächst ihr Augenmerk auf Polen, das sie ganz unter russischen Einfluß bringen wollte, um hierdurch seine völlige Einverleibung in Rußland vorzubereiten. Sie bewirkte 1764 die Wahl ihres Günstlings Stanislaus Poniatowski zum König von Polen und führte durch ihre Einmischung zu gunsten der Dissidenten den Aufstand der Konföderation von Bar herbei, bei dessen Niederwerfung russische Truppen mitwirkten. Als diese bei der Verfolgung der Konföderierten die türkische Stadt Balta in Brand steckten, erklärte der Sultan den Krieg. In diesem ersten russisch-türkischen Krieg (1768-74) siegten die Russen am Fluß Larga (17. Juli 1770) und bei Kartal (1. Aug.), eroberten einen Teil Bessarabiens und 1771 die Krim, wo die Tataren den von ihnen eingesetzten Chan anerkennen mußten, vernichteten 5. Juli bei Tschesme, gegenüber von Chios, die türkische Flotte, überschritten Ende 1771 auch die Donau und schlugen die Türken 21. Okt. bei Babadagh in Bulgarien. Nach einer Unterbrechung durch den Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen von Fokschani (1772) wurde der Krieg in Bulgarien 1773-74 mit wechselndem Erfolge fortgesetzt und durch den Frieden von Kütschük Kainardschi (21. Juli 1774) beendet, durch welchen Rußland das Land zwischen Dnjepr und Bug, die Städte Kinburn, Kertsch, Jenikale und Perekop in Taurien erwarb, ferner das Recht freier Schiffahrt auf dem Schwarzen und Marmarameer und der Durchfahrt durch die Dardanellen, endlich die Schutzherrschaft über die Moldau und Walachei erhielt. Inzwischen hatte sich Katharina infolge der Vereinigung Preußens mit Österreich 1772 zu der ersten Teilung Polens verstehen müssen, in welcher sie Weißrußland gewann. Der bayrische Erbfolgekrieg gab ihr aber bald Gelegenheit, die deutschen Mächte ihren Einfluß fühlen zu lassen, und 1780 gewann sie den Kaiser Joseph II. für ein Bündnis, welches ihr die Türkei preisgab. Nachdem ihr Günstling Potemkin 1783 die Tataren auf der Krim mit blutiger Gewalt unterworfen und diese Halbinsel nebst den Nachbarländern mit Rußland vereinigt hatte, begann die Kaiserin nach einer zweiten Zusammenkunft mit Jo-^[folgende Seite]