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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Wahl

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Wahl (verschiedene Wahlsysteme, deutsches Reichstagswahlgesetz).

Österreich diejenigen, welche gar keine Steuern oder nur einen ganz geringen Steuersatz zahlen, vom Wahlrecht gänzlich ausgeschlossen sind. Das preußische Wahlgesetz vom 30. Mai 1849 hat für die (indirekte) W. zum Abgeordnetenhaus ein Dreiklassensystem eingeführt, wonach die Urwähler in Höchst-, Mittel- und Niedrigstbesteuerte zerfallen und jede dieser drei Klassen je ein Drittel der Wahlmänner zu wählen hat. In England steht den Haushaltungsvorständen das Recht zu, an den Wahlen für das Unterhaus teilzunehmen. In Österreich (Gesetze vom 2. April 1873 und 2. Okt. 1882) wird für das Haus der Abgeordneten in vier Klassen (Großgrundbesitzer, Städte, Handels- und Gewerbekammern, Landgemeinden) gewählt. In Frankreich, in der Schweiz, in manchen nordamerikanischen Staaten und nun auch im Deutschen Reich ist dagegen das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht (allgemeine Stimmrecht, s. d., suffrage universel) eingeführt. Die Erfordernisse der passiven Wahlfähigkeit sind in der Regel dieselben wie für die aktive Wahlberechtigung. Für den deutschen Reichstag insbesondere kann gewählt werden und wählen jeder Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat, sich im Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte befindet und rechtlich selbständig ist. Für Personen des Soldatenstandes, des Heers und der Marine, welche sich bei den Fahnen befinden, ruht die aktive, nicht aber auch die passive Wahlberechtigung. Um in den Reichstag gewählt werden zu können, muß der Kandidat einem deutschen Staat seit mindestens einem Jahr angehört haben. Mitglieder des Bundesrats können nicht zugleich dem Reichstag, Mitglieder einer Ersten nicht zugleich der Zweiten Kammer angehören. In manchen Staaten ist für die Abgeordneten ein höheres Lebensalter erforderlich, zumeist, wie in Preußen, von 30 Jahren. Die Frage, ob Beamte zum Eintritt in die Volksvertretung des Urlaubs bedürfen, ist in den einzelnen Gesetzen verschieden beantwortet. Zum Eintritt in den deutschen Reichstag ist für sie ein Urlaub nicht erforderlich.

Nach dem deutschen Wahlgesetz erfolgt die W. durch absolute Stimmenmehrheit aller im Wahlkreis abgegebenen Stimmen, d. h., der Wahlkandidat muß mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Stellt sich bei einer W. eine absolute Stimmenmehrheit nicht heraus, so ist nur unter den zwei Kandidaten anderweit zu wählen, welche die meisten Stimmen im ersten Wahlgang erhalten hatten (engere W., Stichwahl). Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. In England und in einem großen Teil von Nordamerika ist die W. öffentlich und mündlich, dagegen bei den Wahlen zum deutschen Reichstag und in den meisten deutschen Einzelstaaten (aber nicht in Preußen) geheim, d. h. der Wähler übergibt seinen Stimmzettel dem Wahlvorsteher so zusammengefaltet, daß der auf dem Zettel verzeichnete Name verdeckt steht, und der Wahlvorsteher legt den Stimmzettel uneröffnet in das auf dem Wahltisch stehende Gefäß (Wahlurne). Die Stimmzettel, welche außerhalb des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten, welchem der Wähler seine Stimme geben will, zu versehen sind, müssen von weißem Papier und dürfen mit keinem äußern Kennzeichen versehen sein. Schutzmittel gegen etwanigen Mißbrauch dieses Wahlmodus sind die Öffentlichkeit der Wahlhandlung und der Ermittelung des Wahlergebnisses, ferner die Bestimmung, daß die Funktion der Vorsteher, Beisitzer und Protokollführer bei der Wahlhandlung in den Wahlbezirken und der Beisitzer bei der Ermittelung des Wahlergebnisses in den Wahlkreisen ein unentgeltliches Ehrenamt ist, daß dasselbe nur von Personen ausgeübt werden kann, welche kein unmittelbares Staatsamt bekleiden, und daß endlich das Wahlrecht nur in Person ausgeübt werden kann. Um eine Beeinflussung der spätern W. durch das Resultat der frühern zu vermeiden, muß die W. zum Reichstag im ganzen Gebiet des Deutschen Reichs an einem und demselben Tag stattfinden. Zum Zweck der W. ist das ganze Reichsgebiet in Wahlkreise eingeteilt, welch letztere wiederum zum Zweck der Abstimmung in Wahlbezirke zerfallen. Für jeden Wahlkreis wird ein Wahlkommissar und für jeden Wahlbezirk ein Wahlvorsteher nebst Stellvertreter von der zuständigen Behörde ernannt. Jede Ortschaft bildet der Regel nach einen Wahlbezirk für sich; doch können einzelne bewohnte Besitzungen und kleine sowie solche Ortschaften, in welchen Personen, die zur Bildung des Wahlvorstandes geeignet, sich nicht in genügender Anzahl vorfinden, mit benachbarten Ortschaften zu einem Wahlbezirk vereinigt, große Ortschaften in mehrere Wahlbezirke geteilt werden. Kein Wahlbezirk darf mehr als 3500 Seelen nach der letzten allgemeinen Volkszählung enthalten. Für jede Gemeinde ist eine Liste sämtlicher Wahlberechtigten (Wahlliste, Wählerliste) anzufertigen und zu jedermanns Einsicht mindestens acht Tage lang öffentlich aufzulegen. Innerhalb achttägiger Frist müssen auch etwanige Anträge auf Berichtigung und Vervollständigung der Wahlliste gestellt werden. Die Wahlhandlung (Wahlakt) beginnt an dem bestimmten Tag um 10 Uhr vormittags und wird um 6 Uhr nachmittags geschlossen. Während der Wahlhandlung dürfen im Wahllokal weder Diskussionen stattfinden, noch Ansprachen gehalten, noch Beschlüsse gefaßt werden, abgesehen von Diskussionen und Beschlüssen des Wahlvorstandes, welche durch die Leitung des Wahlgeschäfts bedingt sind. Zur Stimmabgabe sind nur diejenigen zuzulassen, welche in die Wählerliste aufgenommen sind. Um 6 Uhr nachmittags erklärt der Wahlvorsteher die W. für geschlossen; die Stimmzettel werden aus der Wahlurne genommen, uneröffnet gezählt, und ihre Gesamtzahl wird zunächst mit der ebenfalls festzustellenden Zahl der Wähler verglichen, bei deren Namen der Abstimmungsvermerk in der Wählerliste durch den Protokollführer gemacht ist. Über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahlzettel entscheidet zunächst der Vorstand des Wahlbezirks nach Stimmenmehrheit der Mitglieder. Zu diesem Zweck sind diejenigen Stimmzettel, über deren Gültigkeit es einer Beschlußfassung des Wahlvorstandes bedarf, mit fortlaufenden Nummern zu versehen und dem Wahlprotokoll beizufügen. Alle übrigen Stimmzettel sind zu versiegeln und so lange aufzubewahren, bis der Reichstag die W. definitiv für gültig erklärt hat. Die endgültige Wahlprüfung steht nämlich dem Reichstag selbst zu. Für jeden Wahlkreis ist ein Abgeordneter zu wählen. Die Abgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Wahlperiode (Legislaturperiode) wird der Zeitraum genannt, für welchen die Abgeordneten verfassungsmäßig zu wählen sind. Ihre Dauer ist für den deutschen Reichstag durch Reichsgesetz vom 19. März 1888 von drei auf fünf Jahre verlängert, für die Einzellandtage teils auf sechs, teils auf fünf, teils auf vier und teils auf drei Jahre festgesetzt. Erledigt sich ein Mandat vor Ablauf dieses Zeitraums, so ist für den Rest der Wahlperiode eine Nachwahl vorzunehmen, während für den Fall der Auflösung der