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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Darwinismus

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Darwinismus (Theorien von Nägeli, Weismann, Eimer).

Theorie vermag insbesondere auf eine leichte Weise die Erscheinungen des Atavismus, die Vererbung von Eigenschaften von einer Generation auf eine entferntere mit Überspringung der dazwischenliegenden zu erklären. Als logische Folge dieser Kontinuität des Keimplasmas, auf welches äußere Einflüsse nicht einwirken, muß sich ergeben, daß keine neuen Eigenschaften erworben und weiter vererbt werden können. In der That ist es gerade dieser Punkt der Theorie, die Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, welcher einen heftig entbrannten Kampf hervorgerufen hat, denn mit diesem Satz steht und fällt die Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas. Nach Weismann gelangen nur diejenigen Eigenschaften zur Vererbung, welche der Anlage nach schon im Keim vorhanden sind; alle Abänderungen, welche nach der Teilung des Eies in die beiden ersten Furchungskugeln entstehen, nennt Weismann "erworbene Charaktere" oder auch, da sie nach seiner Ansicht nicht erblich sind, sondern mit dem Individuum entstehen und vergehen, "passante Charaktere". Zu ihnen gehören vor allem die während des individuellen Lebens erworbenen Verletzungen und Verstümmelungen, deren Vererbung nach Weismann bisher noch in keinem Fall nachgewiesen ist. Scheinbare derartige Vererbungen lassen sich nach ihm auf andre Weise erklären.

Leugnet so Weismann jede direkte Veränderung des Keimplasmas durch äußere Einflüsse, so gibt er anderseits doch die Möglichkeit zu, daß durch sehr lang andauernde Einflüsse derselben Art, z. B. Temperatur, während des Lebens Anlagen, Prädispositionen, zu neuen Eigenschaften erworben werden und zur Vererbung gelangen können. Nur bei den Protozoen verändern äußere Einflüsse den Organismus direkt, und diese unterscheiden sich nach dieser Theorie dadurch scharf von den Metazoen. Dem Keimplasma Weismanns fehlt aber nicht nur die Fähigkeit, neue Eigenschaften zu erwerben und durch deren Vererbung Varietäten zu erzeugen, sondern es geht ihm auch die Tendenz ab, aus sich selbst heraus abzuändern, so daß die Folge dieser Theorie die Konstanz der Arten wäre. Zur Erklärung der thatsächlichen Variabilität der Arten zieht daher Weismann einen andern Faktor bei und findet diesen in der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei diesem Vorgang wird nicht nur der Vorrat des Keimplasmas immer wieder ergänzt und so die sonst notwendig eintretende Erschöpfung desselben vermieden, sondern durch die Mischung der Eigenschaften, welche die geschlechtliche Fortpflanzung veranlaßt, wird zugleich das Material für die Entstehung neuer Arten gegeben; es kann bei der Mischung zweier Vererbungstendenzen nie wieder Gleichheit eintreten, sondern es müssen im Lauf der Generationen immer neue Kombinationen der individuellen Charaktere erscheinen. So kommt die erbliche individuelle Variabilität zu stande. Unter den durch die Mischung verschiedenen Keimplasmas entstandenen neuen Formen tritt dann der Kampf ums Dasein und Selektion in sein Recht.

Im Zusammenhang mit der Ansicht von der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften stehend und als eine Folge derselben erscheint eine weitere Theorie Weismanns über die Entstehung der rudimentären Organe, die er in einer "Über den Rückschritt in der Natur" betitelten Schrift behandelt. Sie können nach ihm nicht dadurch entstanden sein, daß der Nichtgebrauch direkt verkümmernd auf bestimmte Organe eingewirkt und diese Einwirkung, sich verstärkend, vererbt worden sei und dadurch zur immer weitergehenden Rückbildung des Organs geführt habe, denn die Resultate des Nichtgebrauchs müssen nach Weismanns Ansicht auf das Individuum beschränkt bleiben. Er findet für die Rückbildung eine andre Erklärung in der "Kehrseite der Naturzüchtung". In der Definition dieses Begriffs geht Weismann von der Annahme der Richtigkeit der Ansicht aus, daß die Zweckmäßigkeit der lebenden Wesen in allen ihren Teilen auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, und schließt weiter, daß diese Zweckmäßigkeit auch durch dasselbe Mittel erhalten werden müsse, durch welches sie zu stande gekommen ist, umgekehrt aber wieder verloren gehen müsse, sobald dieses Mittel, die Naturzüchtung, in Wegfall kommt. Sobald nun ein Organ für einen Organismus sich nicht mehr nützlich oder notwendig erweist, wird seine mehr oder minder vollkommene Ausbildung bei der Kreuzung nicht mehr in Betracht kommen, sondern in Bezug auf dieses Organ Allgemeinkreuzung, Panmixie, eintreten; durch diesen Nachlaß in der Auslese geht dann dieses Organ immer mehr zurück. Auf diese indirekte Weise erklärt Weismann auch solche Fälle von Rückbildungen, die, wie das Schwinden des Haarkleides bei Delphinen und Walen, sich nicht direkt als eine Folge des Nichtgebrauchs des betreffenden Organs erklären lassen.

Der Ansicht Weismanns im wesentlichen entgegengesetzt ist die von Eimer aufgestellte Theorie über die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften. Eimer knüpft zunächst daran an, daß die Theorie Darwins die Entstehung der Varietäten und damit der Arten dem Zufall anheimstelle, indem sie die Möglichkeit des Variierens nach allen Richtungen ohne jede Gesetzmäßigkeit zulasse und keine Erklärungen für das erste Auftreten der Variationen gebe. Dem gegenüber kam Eimer, hierin mit Nägeli und Weismann übereinstimmend, auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Resultat, daß das Abändern der Arten überall nach ganz bestimmten Richtungen stattfindet, deren es jedoch in gegebener Zeit nur wenige sind. Zunächst konstatierte Eimer diese Gesetzmäßigkeit beim Abändern für eine bis dahin als völlig gleichgültig, bedeutungslos und zufällig angesehene Erscheinung, nämlich für die Zeichnung der Tiere. Bei zahlreichen in den verschiedensten Klassen des Tierreichs angestellten Untersuchungen fand er als Regel, daß im ganzen Tierreich die Längsstreifung die ursprüngliche ist; im Verlauf der Entwickelung zerfällt sie in Flecke, und diese vereinigen sich wieder zu Querstreifen. Hierbei treten diese Zeichnungen, wie alle neuen Eigenschaften, stets an bestimmten Teilen des Körpers, vorzüglich hinten, auf und rücken während der Entwickelung mit dem Alter nach vorn, während von hinten die nächst jüngere Eigenschaft nachrückt und die vorderste schwindet, ganz wie eine Welle der andern folgt ("Gesetz der wellenförmigen Entwickelung" oder "Undulationsgesetz").

Weitere Untersuchungen ließen eine ähnliche Gesetzmäßigkeit auch in Beziehung auf andre Eigenschaften nachweisen. Mit der Auffindung der Gesetzmäßigkeit des Abänderns sah sich Eimer aber zugleich auch vor die Frage nach den Ursachen dieses Abänderns gestellt. Eine große Anzahl von Eigenschaften wird bekanntlich durch das Nützlichkeitsprinzip, die Auswahl des Nützlichen im Kampf ums Dasein, erklärt, und in ähnlicher Weise wird gleich der natürlichen Zuchtwahl die geschlechtliche Zuchtwahl zur Erklärung der Entstehung andrer Eigenschaften herbeigezogen. Von vielen Eigenschaften, deren Bedeutung für den Organismus wir heute nicht zu erkennen vermögen, können wir doch sagen,