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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur (seit 1885: Drama, Roman und Novelle).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Deutsche Litteratur'

Anmerkung: Fortsetzung von [Drama.]

worrenen, einander direkt widerstreitenden, sich in ihrer Wirkung lähmenden oder geradezu vernichtenden Bestrebungen in der litterarischen und theatralischen Welt jene wunderliche Anarchie, die es möglich macht, daß von der einen Seite der Niedergang, der letzte Bankrott des deutschen Dramas und von der andern ein nie zuvor erhörter Aufschwung desselben verkündet wird. Bei den Propheten des Aufschwungs begegnen wir hier der demütigsten Unterordnung unter die naturalistischen Krafteffektstücke der Franzosen und Russen, dort wiederum einem in der That allzu bescheidenen Anschmiegen an die Anfänge des deutschen Dramas. Sowohl die »freie Bühne«, die nur mit Wagnissen experimentiert, als das Volkstheater, welches auf die dramatische Gestaltung im engern Sinn verzichtet, sind ein Memento mori an die bestehende Bühne, die sich mit Vorliebe »real« nennt, thatsächlich aber immer stärker und bedenklicher von falschen Herkömmlichkeiten und willkürlichen Voraussetzungen beherrscht wird. Während sich die maßgebenden Hoftheater gegen den Strom frischen Lebens abdämmen und von der dramatischen Poesie die unmöglichste Rücksichtnahme auf unglaubliche Vorurteile und ewig unerratbare Bedenken heischen, öffnen sie zugleich der frivolsten Zerstreuungssucht wie der geschmacklosesten Verwilderung Thür und Thor, fahren dabei aber fort, einen dramatischen Messias zu erwarten, der ihren und den höchsten Ansprüchen des Lebens zugleich genügen soll. Natürlich richtet sich dieser die lebendige Wechselwirkung zwischen Bühne und Dichtung hemmende Zustand weniger gegen die historische Tragödie als gegen das bürgerliche Trauerspiel und Schauspiel, die um so unzweifelhafter das eigentliche Bedürfnis der Zeit sind, als hier auch die reichsten Perioden unsrer Litteratur und die glücklichsten dramatischen Talente verhältnismäßig wenig bleibende Schöpfungen hinterlassen haben. Das historische Trauerspiel, einst das Ehrgeizziel der meisten deutschen Dichter, ist wirklich nicht bloß um der flacher gewordenen Weltanschauung und Empfindung der Durchschnittsbildung willen in den Hintergrund getreten, sondern weil innerhalb der modernen Welt sich die Zahl der im alten Sinn tragischen Konflikte verengert hat, dafür aber eine ungeheure Zahl neuer Konflikte aus dem Leben erwachsen ist, die nicht schlechthin in die Formen der alten Tragik aufgehen wollen. Daß zu dieser tiefer liegenden Ursache der Umbildung der Tragödie in ein Schauspiel mit unblutigem und doch tragischem Ausgang auch die Lebensanschauung herrschender Gesellschaftsklassen, die im Grund nur die Tragik des Bankrotts kennen und anerkennen, das Ihrige beiträgt, ist zu unzählige Male erörtert, um hier des Breitern wiederholt zu werden. Gleichwohl erfreut sich die Schöpfung auch des modernen Tragikers, sofern sie nur nicht bloßer Nachklang zu den gewaltigen Werken alten Stils, zu Shakespeare und Schiller, ist, noch immer gewisser Erfolge. Die stärksten hatte E. v. Wildenbruch aufzuweisen, zu dessen frühern Tragödien und Schauspielen sich die Dramen »Die Herrin ihrer Hand«, »Christopher Marlow«, »Das neue Gebot«, »Der Fürst von Verona«, »Die Quitzows«, »Der Generalfeldoberst« gesellten, von denen namentlich »Die Quitzows« ein tieferes Interesse erregten. Von R. Voß traten die Tragödien »Mutter Gertrud«, »Brigitta von Wisby«, »Alexandra« und »Eva« hervor, die letztgenannten dem modern sozialen Drama zustrebend, alle von einer gewissen Bedeutung und alle durch einen unaustilgbar krankhaften Zug beeinträchtigt, welcher die reinen ↔ Wirkungen eines phantasievollen, hochstrebenden Talents in Frage stellt. Von sonstigen Erscheinungen auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung seien noch genannt: »Die Rosen von Tyburn« von A. Fitger, »Thassilo« von Ferd. v. Saar, »Eine neue Welt« (Kolumbus) und »Gerold Wendel« von Heinr. Bulthaupt, »Der Schmied von Ruhla« und »Alexander Borgia« von J. Riffert. Die Dramen von K. Bleibtreu: »Byron«, »Schicksal«, »Vaterland« gehören der schon charakterisierten naturalistischen Richtung an, und auch aus ihnen leuchtet hervor, daß der Wille und die Fähigkeit, neue Tiefen der Natur zu enthüllen, Leben darzustellen, vom Drang des litterarischen Effekts stark überwogen wird. Von Werken, die ihren Weg über die Bühnen gemacht haben und nun in die Litteratur eintraten, erschienen die auf Berliner Boden erwachsenen Schauspiele von O. Blumenthal: »Die große Glocke«, »Ein Tropfen Gift«, das historische Intrigenlustspiel »Der Kriegsplan« von J. v. Werther, das Schauspiel »Die Philosophin« von Fr. Spielhagen, die Lustspiele »Das Recht der Frau« und »Die wilde Jagd« von K. Fulda, das dem Münchener Gärtnerplatztheater angehörige, der bayrischen Volks- und Dialektpoesie verwandte Schauspiel »Das Austragstüberl« von Neuert und Schmidt. Die größere Zahl der bürgerlichen Schauspiele und Lustspiele kommt und geht mit dem Tag und beansprucht weder, noch verdient sie eine tiefere bleibende Teilnahme. Durch eine Folge von Aufführungen, die aus Dilettantenkreisen heraus in den verschiedensten Städten veranstaltet wurden, gelangte das für Worms schon 1883 gedichtete »Lutherfestspiel« von Hans Herrig zu außerordentlicher Volkstümlichkeit; für die Eröffnung der Wormser Volksbühne schrieb der Dichter ein ähnliches Festspiel mehr lyrisch-epischen als dramatischen Gehalts: »Drei Jahrhunderte am Rhein«. Als eine phantastisch-originelle Dichtung erweist sich das Bühnenmärchen »Die letzten Menschen« von Wolfgang Kirchbach, von dem auch ein Lustspiel, »Der Menschenkenner«, hervortrat.

Roman und Novelle.

Im ähnlichen Verhältnis wie die dramatische Produktion zur theatralischen, mit einem geradezu erdrückenden Übergewicht des Handwerksmäßigen, Fabrikmäßigen gegenüber dem Poetischen, innerlich Belebten steht auch in den Lieblingsformen der Zeit, in Roman und Novelle, die einem poetischen Bedürfnis entstammte, dem künstlerischen Sinne nach irgend einer Richtung genügende erzählende Dichtung der Unterhaltungslitteratur gegenüber, welch letztere durch das Bedürfnis der zahllosen Blätter und Blättchen ins sinnlos Massenhafte gesteigert wird.

So waren es denn auch in der Romanlitteratur vor allen längst bewährte Dichter, von denen die wertvollsten und unzweifelhaft lebensvollsten Schöpfungen der letzten Jahre ausgingen. Ein Meister wie Gottfr. Keller fügte der Reihe seiner unvergänglichen Schöpfungen den satirischen und doch in der Gestalt seiner Helden tief poetischen Roman »Martin Salander« hinzu; P. K. Rosegger gab in dem Bauernroman »Jakob der Letzte« ein tragisches Bild aus dem Kampf zwischen den alten Besitzverhältnissen und der menschenvernichtenden Kraft des allmächtigen Kapitals; Paul Heyse stellte in der zum Roman erweiterten Novelle »Die Geschichte der Stiftsdame« eins jener Frauenschicksale dar, für die er den feinen Blick, den innersten Anteil und die Darstellungskunst wie wenige besitzt. Aus der Reihe der Zeitromane erregten Fr. Spielhagens »Was will das werden?« und »Ein neuer Pharao«, die stark realistischen, aber durch und

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 227.