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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Schulreform (Heidelberger Erklärung, Stellung der preuß. Unterrichtsverwaltung)

deutschen Schule einzuholen; 2) mit geeigneten Personen und Vertretern von Körperschaften, insbesondere auch mit solchen, welche inmitten des heutigen Lebens stehen, über die Grundzüge dieser Reform und den Gang ihrer Durchführung in Beratung zu treten sowie die Ergebnisse dieser Beratung thunlichst ausführlich der Öffentlichkeit zu übergeben. Wie bereits bemerkt, hat in wenigen Monaten die Eingabe viele Tausende von Unterschriften erlangt, unter denen eine große Anzahl stattlicher Namen von Vertretern der verschiedensten Berufsstände. Zur Würdigung der Unterschriften ist aber nicht zu übersehen, daß mit erklärter Absicht der Geschäftsausschuß für deutsche S. in seiner Vorlage auf die Darlegung der vorhandenen Schulmißstände sich beschränkt, eigentliche Reformvorschläge dagegen vermieden hat, so daß unter anderm auch alle Mitglieder derjenigen Gesellschaften etc. zum Beitritt aufgefordert werden durften, deren besondere Zwecke nur irgendwie eine Veränderung des gegenwärtigen Zustandes bedingen, namentlich auch des Realschulmännervereins, der denn wirklich in den Unterschriften zahlreich auftritt.

Gegen die Eingabe der Reformfreunde haben naturgemäß alle diejenigen Partei nehmen müssen, welche dem Gymnasium in seiner gegenwärtigen, geschichtlich begründeten Gestalt eine bewußte Vorliebe widmen. Das Wort im Sinn dieser Ansicht ergriffen bald nach Bekanntwerden des eben skizzierten Schriftstücks einige Professoren der Heidelberger Universität in der sogen. Heidelberger Erklärung, welche das Vorhandensein so schreiender Mißstände, wie sie die Gegner behaupten, entschieden leugnet, die wesentliche Gesundheit des höhern Bildungswesens in Deutschland dankbar anerkennt und namentlich zu den geschichtlich berechtigten Grundzügen des Gymnasiallehrplans sich pietätvoll bekennt. Nach Überzeugung dieser Männer wäre es ein Unglück für Deutschland, wenn je ein andrer Weg als der durch die ganze Entwickelung unsrer nationalen Kultur vorgezeichnete für die Bildung der leitenden Stände des Volkes beschritten und den höhern Schulen die unmittelbare Einführung der Jugend in die Interessen des Tags zur Hauptaufgabe gestellt werden sollte. Dabei mag immerhin erörtert werden, für welche Berufsstände der Anspruch auf unmittelbare Kenntnis der lateinischen und der griechischen Sprache aufrecht zu erhalten und an welchen einzelnen Punkten die bisherige Art und Form des Gymnasialunterrichts zu gunsten unabweisbarer Bedürfnisse der Gegenwart einer Umgestaltung zu unterziehen ist. Namentlich scheinen die neuerdings mit Recht mehr hervorgetretenen Fragen der Gesundheitspflege, der Handfertigkeit, der verständigen Unterrichtsmethode an sich ganz unabhängig von der Frage nach der grundsätzlichen Einrichtung, Abgrenzung, Berechtigung etc. der verschiedenen höhern Lehranstalten. Auch diese Erklärung, obwohl ihrer Grundrichtung nach auf einen engern Kreis wirklicher Gesinnungsgenossen beschränkt, hat viel Anklang und gegen 5000 Unterschriften gefunden. Merkwürdig ist, daß bei der gleich zu erwähnenden Verhandlung im preußischen Abgeordnetenhaus der eigentliche Verfasser der Reformschrift, der Abgeordnete v. Schenckendorff, mit der Heidelberger Erklärung und namentlich mit dem, was diese zum Schutz der alten Sprachen im Jugendunterricht beibringt, sich ebenfalls einverstanden erklärte und an ihr nur das Mißverständnis rügte, als ob die Reformeingabe den lateinischen und griechischen Unterricht aufheben oder doch so gut wie beseitigen wolle. Auch er erkennt an, daß die alten Sprachen für das Studium einer großen Anzahl gelehrter Fächer nicht entbehrt werden können, und würde ihre Beseitigung als einen Bruch in der geistigen Entwickelung des deutschen Volkslebens beklagen.

Zu einer lebhaften, allseitigen Aussprache über die ganze Reformfrage kam es 6. März 1889 im preußischen Abgeordnetenhaus. Gegenüber den Vertretern der verschiedensten Standpunkte äußerte der Minister v. Goßler sich ausführlich in einer bedeutenden Rede, die auch durch das »Zentralblatt für das gesamte Unterrichtswesen in Preußen« und demnächst in des Ministers gesammelten »Reden und Ansprachen« (Berl. 1890) veröffentlicht worden ist. Der Minister wirft zunächst einen Rückblick auf die bisherige Geschichte des höhern Unterrichtswesens in Preußen, der dazu führt, den gegenwärtigen Zustand als einen nicht willkürlich gesetzten, sondern geschichtlich gewordenen anzuerkennen, an dem nur mit Vorsicht geändert werden darf. Dem Wunsch, daß er Gutachten und Beratungen veranlassen solle, setzt er die Mitteilung entgegen, wie er diesen Gedanken schon selbst erwogen, aber zurückgedrängt habe, nachdem sorgfältige Prüfung die Thatsache ergeben, daß binnen sechs Jahren (1882-88) 344 verschiedene und großenteils einander schroff widersprechende Reformvorschläge erschienen seien. Nach kurzer Besprechung einige der Vorschläge, die das weiteste Aufsehen erregt haben, wie Einheitsschule, Reformeingabe, Heidelberger Erklärung, bekennt der Minister sich zu dem Grundsatz, lieber etwas vorsichtiger und langsamer vorzugehen, als etwas zu thun, was man nachher als der Nation schädlich zu bereuen habe. Als einen Umstand, der allerdings nicht erfreulich und aller Aufmerksamkeit wert sei, wird dann bezeichnet, daß in Preußen mehr als in den andern deutschen Staaten seit 1866 die Zahl der Gymnasien und der Gymnasiasten sich unverhältnismäßig vermehrt habe. Kam 1866 auf 273 Einw. ein Schüler höherer Bildungsanstalten, so 1880 schon auf 220, jetzt auf 215, und diese Vermehrung der nach höherer Bildung Strebenden fällt vorwiegend auf die Seite der Gymnasien. In Preußen besuchen von der Schülerschaft der höhern Lehranstalten 61 Proz. Gymnasien, in Bayern nur 51 Proz., in Sachsen 48 Proz. Lateintreibende Realschulen besuchen in Preußen 25 Proz., in Bayern 11 Proz., in Sachsen 22 Proz.; lateinlose Realanstalten in Preußen 13 Proz., in Bayern 37 Proz., in Sachsen 29 Proz. Der Minister folgert daraus, daß auch in Preußen die lateinlosen Realanstalten mehr gefördert und ausgebreitet, dagegen die Zahl der Gymnasien womöglich eingeschränkt, jedenfalls nicht ohne genaue Prüfung des Bedürfnisses vermehrt werden müsse. Übrigens hat sich bereits seit 1880 der Besuch der lateinlosen Realanstalten trotz der durch äußere Einflüsse bedingten Einschränkung der Rechte, welche den Oberrealschulen bereits eingeräumt waren, derart gemehrt, daß, statt damals auf 4000^[40x0 - undeutlich], jetzt auf 1685 Einw. ein Zögling dieser Anstalten entfällt. Zurückgegangen ist der Besuch der lateintreibenden Realanstalten; aber der Minister lehnt es entschieden ab, diesen durch Verleihung des Rechts der Entlassung zur medizinischen Fakultät an die Realgymnasien nachzuhelfen, da (andrer Gründe zu schweigen) schon jetzt die Universitäten und an ihnen auch die medizinischen Fakultäten offenkundig überfüllt sind. Bei diesem Anlaß zeigt der Redner die große Schwierigkeit dieser Berechtigungsfragen für das Kultusministerium, das in dieser Hinsicht nicht bloß mit den nebengeordneten Ministerien, sondern überdies noch mit den Ordnun-^[folgende Seite]