Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

738

Schulreform (Bestrebungen der Gegenwart in Deutschland)

verbreiteten Vorurteil für das Lateinische an dieser Sprache festhält und so neben dem höhern Handels- und Gewerbstand auch die gelehrten Berufsstände (Rechtsgelehrte, Ärzte, Mathematiker, Naturkundige, Lehrer), die nicht, wie Theologen und Philologen, unmittelbar auf das Altertum hingewiesen sind, hinreichend bedienen zu können glaubt. So ist auch ins Lager der Realschulfreunde selbst ein Gegensatz getragen, der, wenigstens hinsichtlich der vollständigen neunjährigen Realschule ohne Latein (Oberrealschule), nicht ohne Schärfe geblieben ist. Die unter den verschiedenen Richtungen des höhern Schulwesens vorhandene Eifersucht wird noch besonders rege erhalten durch die Frage nach den Berechtigungen der einzelnen Schulen für den Heerdienst und für die einzelnen Zweige des Staatsdienstes. Wenn bisher noch die eigentlichen Gymnasien an Zahl überwiegen und die größte Anziehungskraft auf die Schüler ausüben, so finden die Vertreter der Realschulbildung darin nur den Erfolg der ungleich reichern Ausstattung der ältern Anstalt mit solchen Berechtigungen, indem ihren Schülern die gesamte Universität, die technische Hochschule und der höhere Staatsdienst in seinem ganzen Umfang zugänglich sind, während die Realgymnasien und nur unter erschwerenden Umständen die Oberrealschulen lediglich für die technischen Hochschulen und für einen Teil der philosophischen Fakultät (Mathematik, neuere Sprachen) an den Universitäten ihre Schüler vorbilden. Endlich hat sich im letzten Jahrzehnt oft in diese Gegensätze noch die wiederholt und von verschiedenen Seiten erhobene Anklage auf Überbürdung der Jugend in den höhern Schulen gemischt, indem manchmal das gesamte höhere Schulwesen in dieser Hinsicht verklagt, oft aber auch die eine oder die andre der bestehenden Schulformen dieserhalb besonders angegriffen ward.

Aus diesen Voraussetzungen erklärt sich der Hauptsache nach die große Zahl der jüngst hervorgetretenen Reformpläne für das höhere Schulwesen in Deutschland, von denen der auf die sogen. Einheitsschule (Verschmelzung von Gymnasium und Realgymnasium) gerichtete als derjenige, der die greifbarste Gestalt angenommen und eine eigne Litteratur hervorgerufen hat, in einem eignen Artikel (Bd. 17, S. 271) behandelt ist. Einen umfassendern Plan legt die im J. 1888 hervorgetretene Agitation für deutsche S. zu Grunde. Die Hauptversammlung der deutschen akademischen Vereinigung von 1888 beschloß auf Antrag des Redakteurs der »Täglichen Rundschau«, Friedrich Lange, behufs Anbahnung einer Reform des höhern Unterrichtswesens in Deutschland eine Masseneingabe an den preußischen Unterrichtsminister zu veranstalten. Eine zu diesem Zweck vom Vorstand berufene Schulkommission stellte nach dem Entwurf ihres Mitgliedes, des preuß. Abgeordneten v. Schenckendorff, der seit etwa einem Jahrzehnt durch sein Eintreten für den Handfertigkeitsunterricht bekannt geworden war, den Wortlaut der Eingabe fest und legte die weitere Verfolgung der Angelegenheit in die Hände eines eigens bestellten Geschäftsausschusses für deutsche S. Dieser konnte noch im Lauf des Jahrs die Eingabe mit mehr als 24,000 Unterschriften an den preußischen Kultusminister von Goßler gelangen lassen. Die Eingabe erkennt zunächst das unausgesetzte Bemühen der deutschen Unterrichtsverwaltungen, das Schulwesen zu verbessern, und namentlich die verdienstliche Thätigkeit des Ministers von Goßler auf diesem Gebiet freudig an, stellt aber fest, daß trotzdem der Ruf nach durchgreifender S. immer stärker ertöne, und bittet deshalb

^[Spaltenwchsel]

um geeignete Schritte zur Herbeiführung einer durchgreifenden S. in Deutschland. »In der gesamten Entwickelung des deutschen Volkes«, so fahren die Gesuchsteller fort, »hat es wohl kaum eine Zeit gegeben, in welcher innerhalb weniger Jahrzehnte auf fast allen Kulturgebieten so wesentliche Fortschritte und Veränderungen vor sich gegangen wären als in der Gegenwart.« Hingewiesen wird besonders auf die Fortschritte der Naturwissenschaft und die dadurch bedingten Fortschritte im gewerblichen Leben, die ganz neue Voraussetzungen der Volkswirtschaft und der Gesellschaftsverfassung schufen; sodann auf die durch Freizügigkeit, Selbstverwaltung, Vereinsleben wesentlich veränderten Rechte und Pflichten des einzelnen Staatsbürgers gegenüber dem großen Ganzen des Staats und der Gesellschaft. Diesem Entwickelungsgang ist, wie die Verfasser der Eingabe behaupten, die deutsche Schule bisher nicht genügend gefolgt. Wo sie überhaupt gefolgt ist, fügte sie ihren alten Aufgaben die neuen der Gegenwart äußerlich hinzu und überspannte dadurch ihre Ansprüche an die Leistungskraft der Jugend. Aber der Grund dafür, daß die Ergebnisse des Unterrichts vielfach nicht im richtigen Einklang mit den oft übergroßen Anstrengungen der Kinder stehen, ist zum Teil auch in dem üblichen Lehrverfahren zu suchen, nach dem angeblich das Schwergewicht des Unterrichts zu sehr auf Gedächtnisübung, mechanische Anlernung und formale Ausbildung gelegt wird, statt dessen vielmehr das Erfassen und Begreifen der Wirklichkeit und die Übung der körperlichen Kräfte stärker gepflegt werden sollten. - »Während überdies«, so heißt es wörtlich, »manche wichtige, zum Verständnis der Gegenwart unentbehrliche Unterrichtsgebiete auf unsern Schulen noch gar nicht behandelt werden, liegt zugleich den der Zahl nach verbreitetsten und auch am stärksten besuchten höhern Lehranstalten noch immer ein Lehrplan zu Grunde, welcher die größere Zeit des Unterrichts auf das Eindringen in die alte Kultur verwendet und unsre Jugend viel zu wenig einführt in die Kultur und das Leben der Gegenwart.« Auch die geltenden Vorschriften über die Berechtigungen der verschiedenen Lehranstalten werden als überlebt bezeichnet, indem keineswegs mehr eine bestimmte Art von Schulen die allein empfehlenswerte Vorbildung für Hochschulstudien gewährt, und als schädlich, indem sie in das Gymnasium zahlreiche Schüler locken, die das Lehrziel dieser Anstalt gar nicht zu erreichen beabsichtigen und daher nur hemmende Elemente für sie abgeben. Endlich wird noch das Fehlen einer einheitlichen, zweckmäßig von Stufe zu Stufe, d. h. von niederer zu höherer Anstalt, ineinander greifenden Organisation des gesamten Schulwesens gerügt, infolge dessen die Eltern genötigt sind, der Berufswahl ihrer Kinder durch Auswahl einer Schulanstalt allzufrüh vorzugreifen. Wenn diese Mängel des Schulwesens geradezu als ernste Gefahr für die Wohlfahrt des deutschen Volkes bezeichnet werden, so wird doch die Unterstellung abgelehnt, als wolle man durch deren Aufzählung Vorwürfe gegen die staatlichen Schulverwaltungen häufen. Vielmehr ist die Überzeugung, daß die Behörden und Lehrer, ja einzelne Faktoren des Staats überhaupt die schwierige Aufgabe der S. nicht zu lösen vermögen, daher im Rückgriff auf einen Beschluß des preußischen Abgeordnetenhauses vom 21. Jan. 1879, der die Bildung eines Landesunterrichtsrats empfahl, das eingangs allgemein angedeutete Begehr schließlich zu der Bitte ausgestaltet wird, 1) aus berufenen Kreisen Deutschlands Vorschläge und Gutachten zur Frage einer Reform der