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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Erblichkeit

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Erblichkeit (Weismanns Theorie).

suchen sind, hat Boveri interessante experimentelle Beweise geliefert, indem er die Leichtigkeit, Bastardformen gewisser Seeigel durch künstliche Befruchtung zu erzielen, und ein Verfahren der Gebrüder Hertwig, Seeigel-Eier zu entkernen, benutzte, um Mittelformen von Echinus microtuberculatus und Sphaerechinus granularis aus teilweise oder völlig entkernten Eiern der letztern Art zu erzielen. Da die Bastardform mit keiner der beiden Eltern zu verwechseln ist, so ergab sich leicht, daß gewisse Larven, die nur denen der väterlichen Art ähnlich waren, aus entkernten Eiern der mütterlichen Form stammen mußten, während die richtigen Bastardformen (von denen manche unter dem Größenmittelmaß waren) aus den gar nicht oder nur teilweise entkernten Eiern hervorgegangen sein mußten. Damit scheint der Beweis erbracht, daß die erblichen Tendenzen wirklich, wie bereits die Gebrüder Hertwig und viele andre Naturforscher angenommen hatten, nur in den Zellkernen, nicht im Plasma wohnen.

Die Frage nach den Grenzen der Vererbung ist in den letzten Jahren mit ungemeiner Lebhaftigkeit erörtert worden, nicht allein, weil die Dichter der neuen naturalistischen Schule, wie Zola, Ibsen, Echeparay, Hauptmann etc., dieselbe mit Vorliebe zum Gegenstand ihrer Romane und Dramen gemacht haben, sondern weil von einer Reihe angesehener Naturforscher die E. von außen erworbener Eigenschaften vollständig geleugnet wurde. Es ist dies die Weismannsche Schule, welche von der Theorie einer Kontinuität des Keimstoffs ausgeht, d. h. von der Vorstellung, daß das im Körper der jeweiligen Träger vorhandene Artplasma von diesen nicht aus den Körpersäften neu erzeugt, sondern nur ernährt, vermehrt und weitergegeben werde, sofern es aus demselben Keimbildungsstoff abgesproßt sei, aus dem die Träger selbst entstanden sind und so in ununterbrochener Folge weiter zurück bis an den Anfang der betreffenden Lebenslinie. Nach dieser Auffassung, die sich sehr stark den alten Vorstellungen der Präformationslehre nähert, gibt es somit gar keine E. im gewöhnlichen Sinne, denn der Keimstoff soll ja hiernach im wesentlichen derselbe bleiben und kann deshalb nur solche Eigenschaften und Fähigkeiten entfalten, die in demselben von Anfang an lagen.

Die Anfänge dieser neuen Auffassung reichen bis 1876 zurück, in welchem Jahre gleichzeitig Gustav Jäger in Deutschland und Francis Galton in England auf die schon Jahrzehnte ältern Beobachtungen hinwiesen, daß bei gewissen Tieren, namentlich Insekten, die Entwickelung des Eies zum jungen Tiere damit beginnt, daß sich ein kleiner Zellenteil von der Hauptmasse des zum Körperaufbau dienenden Keimstoffs absondert, um, in das Innere des sich bildenden Körpers aufgenommen, dort den Grundstock des sich später vermehrenden Keimzellenvorrats zu bilden. Obwohl das Auftreten von Keimzellen bei höhern Tieren meist erst viel später zu beobachten ist, so wurden jene Wahrnehmungen und die daran geknüpften Schlüsse doch von den oben genannten Naturforschern verallgemeinert, und Jäger meinte, daß der Keimstoff sich nach geschehener Befruchtung ganz allgemein in zwei Anteile spalte, einen ontogenetischen (Personalteil Raubers), aus dem sich der Körper des neuen Sprößlings aufbaut, und einen phylogenetischen (Germinalteil Raubers), der im Körper desselben aufgespeichert bleibt, um sich daselbst durch Zellteilung zu vermehren und den Stamm für die Absprossung neuer Fortpflanzungszellen zu bilden. Somit wäre ein ununterbrochener Zusammenhang nur für die Keimzellen gegeben, nicht aber für die den Körper (soma) aufbauenden somatischen Zellen, die erst sekundär aus den erstern entstehen, welche alle erblichen Anlagen der Art in ihren Kernen enthalten und bewahren, während die somatischen Zellen nur absterbende, vergängliche Formen bilden.

Man erkennt sogleich, daß aus dieser neuen Ansicht tiefgreifende Folgeschlüsse für die Erblichkeitslehre entspringen müssen, denn es werden hier zwei nebeneinander bestehende, sehr ungleichwertige Elementarteile des Körpers angenommen: somatische oder Baustoffzellen, die aus den Keimzellen entstehen, und Keimzellen, die nicht aus somatischen Zellen, sondern nur wieder aus Keimzellen entstehen können. Damit werden die somatischen Zellen, die den gesamten Körper mit Ausschluß des Inhalts der Geschlechtswerkzeuge aufbauen, völlig dem Einfluß auf Erblichkeitserscheinungen entzogen, und Veränderungen, die nur ihr Wesen berühren, ihre Erstarkung oder Schwächung nach bestimmten Richtungen, alles, was man als Anpassung, Fortschritt und Rückgang des Körpers durch äußere Einwirkung bezeichnet, auch Erkrankungen etc., welche nur die Körperzellen betreffen, können nicht auf die Keimzellen einwirken: es kann mit einem Worte keine E. der von erstern erworbenen Eigenschaften geben.

Auch der Einfluß dieser neuen Anschauung der Dinge auf die Vorstellungen vom Werden der Lebewelt springt sofort in die Augen. Denn die ältere, von Erasmus Darwin und Lamarck angebahnte Deszendenztheorie, nach welcher die Organe und Fähigkeiten der höhern Organismen durch Anstrengungen des Körpers in bestimmten Richtungen, durch Übung und Kräftigung der Organe, durch langsame Einflüsse von Klima, Land und Umgebung, durch Wechselwirkung mit andern Organismen und Anpassung an bestimmte Bedürfnisse und Erfordernisse zu immer zweckmäßigern Formen fortgebildet sein sollen, könnte nicht richtig sein, wenn solche Veränderungen des Körpers nicht erblich wären und sich nicht in bestimmten Richtungen summieren könnten. Das durch äußere Einflüsse im Ringen des Individuums gegen dieselben Erreichte würde immer wieder mit demselben verschwinden, die Nachkommenschaft müßte in dieser Beziehung jedesmal wieder von vorn anfangen.

Damit steigt die Frage auf, wie denn die Weismannsche Lehre von der Nichterblichkeit der durch äußere Verhältnisse und durch die Anstrengungen des Organismus, sich mit denselben ins Gleichgewicht zu bringen, die Entstehung der zahllosen Anpassungen an bestimmte Lebensverhältnisse und die durch die Paläontologie unwidersprechlich bewiesene Vervollkommnung der Lebewesen im Laufe der geologischen Zeiten erklären wolle? Sie versucht dies, indem sie zu diesem Zwecke eine unbegrenzte Veränderungsneigung im Keimbildungsstoff annimmt und sie durch die natürliche Zuchtwahl, d. h. das Überleben des Passendsten, in die rechten, erfolgreichsten Wege leiten läßt. Es handelt sich also um eine gänzliche Verdrängung der sogen. Lamarckschen (eigentlich ältern Darwinschen) durch die reine Darwinsche Zuchtwahltheorie. Als Hilfsmittel für die Erklärung wird der dunkle Vorgang zu Hilfe gerufen, welchen man als die Austreibung der Richtungskörperchen (s. Bd. 13, S. 817) bezeichnet hat, nämlich ein Austreten kleiner Keimstoffmengen aus den Keimzellen vor und nach der Befruchtung, von welcher einzelne der zahlreichen, durch die beständige Kreuzung