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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Explosivstoffe

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Explosivstoffe (Theorie).

die Produkte der explosiven Reaktion genau bekannt sind, und wenn man von vornherein die Bildungswärme der ursprünglichen Substanzen sowie der Produkte aus ihren Elementen kennt. Zieht man die erste Menge von Wärme von der zweiten ab, so erfährt man die während der Explosion entwickelte Wärme.

Die entwickelte Wärme ist ein Maß für das Arbeitsmaximum, das von der explosiven Substanz geleistet werden kann, wenn sie unter dem Atmosphärendruck zur Wirkung gelangt. Diese Menge von Wärme ist mit der Zahl 425, d. h. mit dem mechanischen Wärmeäquivalent, zu multiplizieren, um diese Arbeit in Kilogrammetern zu erhalten. Das Produkt ist der Wert ihrer potenziellen Energie.

Das entstandene Gasvolumen und seine Temperatur sind der konstante Bestimmungsfaktor für den entwickelten Druck, wenn die explosive Substanz sich zersetzt. Das Gasvolumen, auf 0° und 760 mm Barometerstand reduziert, kann entweder durch das Experiment beobachtet oder für jede genau bekannte Reaktion berechnet werden. Die Temperatur kann direkt gemessen werden, wenigstens im Prinzip, in Wirklichkeit ist diese Messung bei den in Betracht kommenden sehr hohen Temperaturen außerordentlich schwierig. Man weiß bisher nur, daß die Explosion des Schießpulvers eine höhere Temperatur entwickelt, als zur Schmelzung des Platins (1900°) erforderlich ist. Die theoretische Berechnung liefert nicht brauchbare Resultate.

Der im Entstehungsmoment der explosiven Reaktion entwickelte Druck kann entweder im voraus berechnet oder direkt gemessen werden mit Hilfe verschiedener Apparate, der Gasdruckmesser, durch an metallischen Organen bewirkte Deformationen (Eindrücken eines Meißels in eine Metallplatte oder Komprimierung von Kupfercylindern oder Pressung von Bleicylindern in einen konischen Kanal von kleinerm Durchmesser). Die mit diesen Apparaten erhaltenen Deformationen werden verglichen mit den Deformationen, die man durch genau bekannte, mittels hydraulischer Pressen hervorgebrachte Drucke erhält.

Die Methoden, die vorgeschlagen worden sind, den durch die explosiven Substanzen entwickelten Druck zu berechnen aus dem Gasvolumen und der Wärmemenge, welche von ihnen erzeugt wurde, verdienen nur dann Berücksichtigung, wenn die erhaltenen Resultate mit den auf experimentellem Wege erhaltenen übereinstimmen.

Bei allen Explosivstoffen spielt die Zeitdauer der Reaktionen eine wesentliche Rolle. Einmal hervorgerufen, vollzieht sich die Reaktion von selbst, indem sie sich entweder durch einfache, allmähliche Entzündung oder durch fast augenblickliche Detonation fortpflanzt. Diesen Beginn der Reaktion hat man Zündung genannt, was eine erste lokale Erhitzung bedeutet. Der Beginn der Reaktion kann indessen auch von einem Stoß, einem Druck, einer Reibung herrühren. Um sich zu entwickeln, bedarf die Reaktion einer sie einleitenden Arbeit; die explosive Substanz muß auf eine gewisse Anfangstemperatur gebracht werden, das Schießpulver z. B. auf 315°, das Knallquecksilber auf 190°. Ohne diese Notwendigkeit könnte keine explosive Substanz im voraus dargestellt und in Magazinen gelagert werden. Stoß, Druck, Reibung u. a. m. sind nur unter der Voraussetzung wirksam, daß auch sie eine lokale Erhitzung der explosiven Substanz bewirken. Je nach den Bedingungen, unter denen diese Erhitzung erfolgt, kann die Zersetzung derselben explosiven Substanz bei sehr verschiedenen Temperaturen und ebenso mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten erfolgen. Im Zusammenhang hiermit steht die Sensibilität der explosiven Substanzen. Eine Substanz ist sensibel für die geringste Temperaturerhöhung, eine andre für einen Stoß, eine andre detoniert bei der leisesten Reibung. Die Sensibilität hängt ab von der Initialtemperatur, der die explosive Substanz ausgesetzt wurde, ferner von der Substanzmenge, auf welche sich die Arbeit des Stoßes oder der Reibung verteilt, d. h. von der Kohäsion der explosiven Substanz.

Die mehr oder weniger lange Dauer einer Reaktion ändert kaum die Menge der durch die vollständige Zersetzung einer gegebenen Explosivstoffmenge entbundenen Wärme. Können sich die entwickelten Gase aber ausdehnen, dann wird der Anfangsdruck um so geringer sein, als die Zersetzung der betreffenden Explosivstoffmenge längere Zeit dauern wird. Erlaubt eine sehr rapide Zersetzung der ganzen, in einem geschlossenen Raume befindlichen Explosivstoffmasse dem Anfangsdruck, die kolossale Größe seiner theoretischen Grenze zu erreichen oder sich ihr zu nähern, so wird es schwierig sein, Gefäße herzustellen von genügender Widerstandsfähigkeit, um die Explosionsgase eingeschlossen zu halten. Hieraus erklärt sich der Einfluß widerstandsfähiger Umhüllungen und der Verdämmung, ein Einfluß, der bemerkt wird sowohl bei langsam als bei schnell sich zersetzenden explosiven Substanzen. Da aber die Explosionsprodukte fortdauernd Wärmeverluste erfahren infolge von Berührung, Leitung und Strahlung und somit eine Abkühlung, welche die Temperatur und daher auch den Druck sowie die Geschwindigkeit der chemischen Reaktion vermindert, so erleidet der Anfangsdruck eine Abschwächung, die um so geringer sein wird, je schneller die explosive Substanz sich zersetzt, je enger der Raum ist, in welchem dieselbe sich eingeschlossen befindet, und je widerstandsfähiger die Wandungen desselben sind.

Aber selbst bei in schwacher Umhüllung oder unter einer Wasserschicht, ja sogar bei an freier Luft befindlichen explosiven Substanzen zeigt sich das gleiche Verhalten. Denn wenn die Dauer der Reaktion ins Ungemessene abnimmt, so entwickeln die entbundenen Gase einen Druck, der mit solcher Geschwindigkeit anwächst, daß sogar die in der Umgebung befindlichen festen, flüssigen und selbst luftförmigen Körper nicht Zeit finden, sich in Bewegung zu setzen und ihnen allmählich nachzugeben; diese Körper setzen dann der Ausdehnung der Gase Widerstände entgegen, die denen, welche ein fester Einschluß bietet, zu vergleichen sind. Ein Tropfen Chlorstickstoff kann auf einem Uhrglas detonieren, ohne dasselbe zu zertrümmern, während, wenn man ihn mit ein wenig Wasser bedeckt, das Glas zerschmettert wird. Je nachdem sich mehr oder weniger große Massen einer explosiven Substanz zersetzen, kann die Art ihrer Zersetzung sich verschieden gestalten, ein Verhalten, das bei den spontanen Zersetzungen großer Explosivstoffmengen beobachtet wird. Zuerst langsam bei gewöhnlicher Temperatur, wird die Zersetzung schneller unter dem Einfluß der von ihr bewirkten Temperaturerhöhung, indem die Wärme auf die Anfangsreaktion eine neue Reaktion folgen läßt, die mehr Wärme entwickelt; hierdurch erhöht sich die Temperatur noch weiter, so daß die Reaktion eine stürmische wird und schließlich eine allgemeine Explosion eintritt. Auf diese in Laboratorien oft beobachtete Thatsachen hat man sich berufen, um die spontanen Explosionen der Schießbaumwolle und des Nitroglycerins zu erklären. Sie haben dahin geführt, als besonders gefahrvoll eine explosive