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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schwedische Litteratur

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Schwedische Litteratur (Dichtung).

denheit führte die neue Litteraturrichtung das Wort für die letztere, indem sie die Gegensätze zwischen beiden schärfte.

Schon in den letzten 70er Jahren und zu Anfang der 80er Jahre traten die hervorragendsten Schriftsteller dieser Richtung auf. In der Poesie war es Albert Ulrik Bååth, der mit seinen »Dikter« (1879) und »Nya dikter« (1881) einen neuen Ton anschlug. Die Form war eine andre, als man sie bisher gewohnt gewesen. Die landläufigen poetischen Bilder und Ausdrücke waren verschwunden und neue, kräftigere, aus der umgebenden Wirklichkeit und dem Alltagsleben genommen, an die Stelle getreten. Worte aus der Alltagssprache, die früher in der Poesie nicht für präsentabel galten, wagte er unerschrocken zu gebrauchen und vermengte sie sogar ab und zu mit Worten aus den Dialekten, da die Staatssprache prägnanter Ausdrücke für das, was er bezeichnen wollte, entbehrte. Ebenso war die Versbildung in gewisser Weise neu: wie in der altnordischen Poesie bildete hier die Betonung die rhythmische Grundlage. Zwar klang die Form hart und derb, aber das Frische und Originelle in derselben wog diesen Mangel auf. Der Inhalt war gleichfalls neu. In den Nationalgesängen lieh der Dichter seiner Liebe zu dem heutigen Schweden Worte und forderte zur Hebung des Volksgeistes namentlich durch die Verbreitung der Aufklärung in allen Schichten auf. Er malte Bilder, schilderte Stimmungen aus der Natur um ihrer selbst willen und zeichnete mit Vorliebe seine Heimat, die Schonensche Ebene, die sonst für unschön und unpoetisch gegolten. In Bildern und Situationen stellte er in scharfem Kontrast nebeneinander thatenloses Träumen und thatkräftiges Arbeiten, Reichtum und Armut, Überfluß und Elend, unthätiges Genußleben und harten Kampf ums Dasein, Unsittlichkeit unter konventioneller Tugendmaske, Funken von höherm Leben bei den Tiefgesunkenen oder von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Auch erotische Gedichte neuer Art finden sich, kleine Bilder und Situationen, in welchen verschiedene Stimmungen aus der Geschichte der Liebe vorkommen: ihre ersten Träume, ihr Glück, erwachender Zweifel, Schmerz, Kummer und Verzweiflung. Bååth gehörte jedoch nie zu den Extremen dieser Richtung. Bitterkeit und Ungerechtigkeit führen nie das Wort in seiner Dichtung; er greift nie mit kalter Hand in des Lebens zarte Verhältnisse. In seiner dritten Gedichtsammlung: »Vid allfarväg« (1884), herrscht eine mildere Stimmung, er hebt nicht mit so großer Schärfe wie früher die sozialen Kontraste hervor, sondern sucht die Lichtpunkte auch in des Ärmsten Leben auf. Er schildert hier mit Vorliebe die Ruhe von der Arbeit, die Luft an der Arbeit und die Genügsamkeit und sieht in der Liebe des Lebens Bedeutung und in der pflichttreuen Arbeit seine erhaltende Macht. Die Form ist hier durchgearbeitet und vollendet, ohne an Ursprünglichkeit, Frische und Kraft verloren zu haben.

Gegen den Schluß der 70er Jahre trat auf dem Boden des Dramas und der Erzählung August Strindberg auf. In dem Schauspiel »Mäster Olof«, mit dem schwedischen Reformator Olaus Petri als Träger des Stückes, zeichnet er keck und kräftig den Kampf der neuen Zeit gegen die alte. Bei dem Reformator läßt er jedoch bald das Glühen für Wahrheit erkalten und die Ideen ein Kompromiß mit der Staatsrücksicht und eigennütziger Berechnung eingehen, während die rücksichtslose Konsequenz von einem Wiedertäufer vertreten wird, der deutlich die Sympathien des Dichters hat. Es war augenscheinlich, daß er in der Gärungszeit der Reformation seine eigne Zeit und in dem Kampfe gegen die alte Kirche den Streit des jüngern Geschlechts gegen die gleichzeitigen abgestorbenen Formen für das Ideal zu zeichnen suchte. Der Roman »Röda rummet« (1879) schilderte in einer Reihe von Bildern aus dem Leben des jüngern Geschlechts in Stockholm das Bohemientreiben der jüngern Schriftsteller- und Künstlergeneration. Die Hauptperson ist ein Wahrheitsfanatiker, der findet, daß nichts das ist, wofür es sich ausgibt, der offen seine Meinung ausspricht, deshalb auf allen Seiten anstößt, als gesellschaftsgefährlich angesehen wird, und dem es trotz aller Kenntnisse und Talente nicht gelingt, sich eine Stellung in der Welt zu machen. Die meisterhafte Zeichnung der Naturbilder und Interieurs, die mit kräftigem Realismus und treuer Anschaulichkeit ausgeführt sind, die lebendigen, unmittelbar aus dem Leben geschöpften Züge, die treffenden psychologischen Beobachtungen sowie der Geist der Frische und des Lebens, der durch das Buch ging, waren etwas Neues und machten großes Aufsehen, obgleich die Komposition sehr schwach und der Gedanke unklar war, ein Geist der Bitterkeit durch das Buch wehte, außerdem auch unnötig rohe Schilderungen vorkamen. Eine außerordentliche Produktivität brachte eine Arbeit um die andre zu stande. Infolgedessen waren die meisten bei all ihren großen Verdiensten, die sie in verschiedener Richtung hatten, zu wenig durchgearbeitet. Das Schauspiel »Gillets hemlighet« (1880) und »Herr Bengts husfru« (1883) folgten sich rasch. In »Svenska öden och äfventyr« bot er eine Reihe von historischen Erzählungen mit Stoffen aus verschiedenen Perioden. In dem ganzen äußern Apparat zeigten sie eine gute Zeitfärbung, aber die handelnden Personen waren doch immer verkleidete Menschen von heute, und unter der historischen Tracht sah man die scharfe Kritik gegen die Anschauungen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart durchschimmern. In der Forderung der Freiheit und des Rechts des Individuums trieb er es so weit, daß er die ganze Gesellschaft verdammte und in der Kultur eine bösartige Entartung erblickte; Kultur war für ihn Unnatur. Der Individualismus trieb die Konsequenz noch weiter. In »Giftas« (1885) greift er einzelne von den Fesseln an, welche die Sittlichkeit der schrankenlosen Freiheit auflegt. In dieser übrigens sehr talentvollen Arbeit, welche dem Verfasser wegen Verhöhnung des Nachtmahls eine Strafklage zuzog, von welcher er jedoch freigesprochen wurde, greift er mit den Waffen des Humors die übertriebenen Ansprüche der Frauen auf Selbständigkeit in der Ehe an, welche von einer Gruppe namentlich der neuern Litteraturrichtung angehörenden Schriftstellerinnen unter dem Einfluß von Ibsens »Et Dukkehjem« geltend gemacht worden. In seinem »Nya riket« (1882), seinen »Dikter« (1883), »Utopier« (1885) u. a. legt Strindberg dieselbe strenge Kritik an das Bestehende und entwickelt ein ganz eminentes Talent. Aber der Ton wird in allen seinen Arbeiten aus dieser Zeit immer bitterer, und seine Polemik richtet sich häufig in mehr oder minder versteckten Anspielungen gegen die Person, statt gegen die Sache. Auch artet der rücksichtslose Realismus in seinen Schilderungen nicht selten in Roheit aus. Ein Versuch in schwedischer Kulturgeschichte: »Svenska folket i helg och söken«, der 1881 zu erscheinen begonnen, in welchem das Leben der untern Volksschichten geschildert werden sollte, und in welchem auch dieselben Tendenzen wie in seinen belletristischen Arbeiten hervortreten, wurde von ihm selbst als mißglückt erkannt. Besser fiel eine andre kulturhistorische Arbeit