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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theater in Deutschland

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Theater in Deutschland (1889-90).

auf äußere Ausstattung mit Dekorationen und Kostümen im Sinn eines geschichtlichen Realismus, auf ein lebendiges Zusammenwirken zwischen Einzelspielern und Statisten und auf eine natürliche Gestaltung der gesamten szenischen Vorgänge gegeben hatte. Die von den Meiningern im Laufe von 17 Jahren an vielen Orten ausgestreuten Samenkörner hatten so reiche Früchte getragen, und ihre Reformen, die im Grunde darauf hinausliefen, aus einem Bühnenwerk ein nach allen Richtungen gleich vollendetes Kunstwerk zu schaffen, hatten trotz anfänglichen Widerspruchs allmählich so überzeugend und bahnbrechend gewirkt, daß die Mission der Meininger als vollendet gelten konnte, als 10. Aug. 1890 der Intendant Chronegk bekannt machte, daß der Herzog von Sachsen-Meiningen den Beschluß gefaßt, sein Theater in Zukunft nicht mehr in der bisher üblichen Weise gastieren zu lassen. Das erste auswärtige Gastspiel der Meininger hatte 1. Mai 1874 im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater zu Berlin mit einer Aufführung von Shakespeares »Julius Cäsar« stattgefunden, das letzte 1. Juli 1890 im Stadttheater zu Odessa mit einer Aufführung von Shakespeares »Was ihr wollt«. In diesem Zeitraum hat die Gesellschaft des Meininger Hoftheaters 2591 Vorstellungen in 36 Städten (in 18 deutschen und 18 fremden) gegeben, bei denen 41 Schauspiele zur Aufführung gelangten, und die eine Einnahme von 6,322,978 Mk. brachten. Die meisten Aufführungen erlebten »Julius Cäsar« (330) und das »Wintermärchen« (231) von Shakespeare, »Wilhelm Tell« (223), »Die Jungfrau von Orleans« (194) und »Fiesco« (152) von Schiller. Vgl. Richard, Chronik sämtlicher Gastspiele des herzoglich Sachsen-Meiningenschen Hoftheaters 1874-90 (Leipz. 1890).

Die guten künstlerischen Grundsätze der Meininger waren in der letzten Zeit von mehreren Bühnenleitern einseitig ausgelegt und nach verschiedenen Richtungen übertrieben worden. Einerseits hatte ein maßloser Prunk in der äußern Ausstattung um sich gegriffen, anderseits war der geräuschvollen Thätigkeit der Statisten, der sogen. Komparserie, in den Volksszenen ein Spielraum überlassen worden, in dem die Leistungen der führenden Darsteller sich nicht mehr frei entfalten konnten, und dieser Übelstand droht schließlich das künstlerische Niveau der Schauspielkunst im allgemeinen herabzudrücken. Gegen einen dieser Auswüchse richtet sich die von dem Intendanten des Münchener Hoftheaters unternommene Reform, der durch ein Zurückgreifen auf den einfachen szenischen Apparat der alten englischen Bühne zur Zeit Shakespeares zunächst den häufigen Wechsel der Schauplätze in den Dramen Shakespeares, der bei der Einrichtung unsrer modernen Bühne nur nach jedesmaligem Fallen des Zwischenvorhanges durch zeitraubende Veränderungen hinter ihm herbeigeführt werden kann, vermeiden und dadurch die Einheitlichkeit der Wirkung des dichterischen Werkes steigern wollte. Freiherr v. Perfall war zu diesem Unternehmen durch einige, 1887 in der Münchener »Allgemeinen Zeitung« veröffentlichte Artikel von R. Genée angeregt worden, die der Verfasser später noch einmal, mit andern auf dasselbe Thema bezüglichen vereint, in Buchform unter dem Titel: »Die Entwickelung des szenischen Theaters und die Bühnenreform in München« (Münch. 1889) herausgab. In einem Rundschreiben an die Mitglieder des Münchener Hoftheaters und die Zeitungen begründete Freiherr v. Perfall seinen Reformversuch folgendermaßen: Da die moderne Bühne mit ihrem schweren, äußerst komplizierten Apparat und Mechanismus in einem ganz entschiedenen Gegensatz zu den Shakespeareschen Dramen steht, die ungeachtet ihrer vielfach verschlungenen und doch so klaren Komposition ohne Rücksicht auf jeden Mechanismus gedacht und geschrieben sind, so werden wir das anzustrebende Ziel nur erreichen können, wenn wir eine Bühne schaffen, die in ihrer Einfachheit als eine gewisse Nachbildung der Shakespeareschen den Dramen dieses Dichters eine freie und uneingeschränkte Entwickelung gestattet.

Die nach dieser Ankündigung eingerichtete Münchener Shakespearebühne (s. Figur), deren praktische Brauchbarkeit zuerst 1. Juni 1889 mit einer Aufführung des »König Lear« erprobt wurde, schließt sich insofern an einen 1817 aufgestellten Plan Schinkels an, als sie ein in das Orchester vorgebautes Proszenium angenommen hat und die wechselnden Seitenkulissen wegfallen läßt, an deren Stelle eine bleibende Gardinendekoration tritt, während der Wechsel der Schauplätze durch den Prospekt im Hintergrunde angedeutet wird. In diesem vorgebauten Proszenium sieht Genée die eine der beiden großen Errungenschaften der neuen Shakespearebühne (die andre ist der leichte Szenenwechsel), weil nach seiner Meinung auf diesem Proszenium das Wort des Dichters ganz unvergleichlich mehr zur Geltung kommt als auf der gewohnten, mit allerlei die Aufmerksamkeit ablenkenden Requisiten und Versatzstücken ausgestatteten Bühne. An dieses Proszenium schließen sich nach hinten zwei Bühnenteile an, ein vorderer, der unverändert bleibt (die Vorderbühne), und ein durch drei Stufen erhöhter schmälerer, der in der ersten Kulisse der vorhandenen Bühne beginnt und durch einen Vorhang geschlossen werden kann (die Mittelbühne). Über die Einzelheiten macht die Schrift Genées folgende Angaben: Die Münchener Bühne, die in der Linie des Hauptvorhangs (vor der Vorderbühne) eine Breite von 13½ m hat, ist nach vorn bogenförmig bis über die Hälfte des Orchesters nach dem Zuschauerraum vorgerückt, die Mittelbühne ist 8 m breit und 6 m hoch und hat ebenfalls statt der Seitenkulissen eine feststehende Begrenzung, deren Ein- und Ausgänge, wie die der Vorderbühne, durch Gardinen geschlossen sind. Die ganze Vorderbühne, die unverändert bleibt, zeigt

^[Abb.: Grundriß der Münchener Shakespearebühne. A Beleuchtung, B Thüren mit Vorhängen.]