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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Brief (Geschichte des Briefes in Deutschland)

Grund. Im ganzen sind sie den Nachschriften völlig gleich. Im 15. Jahrh. wird der Gebrauch der Zettel immer häufiger, namentlich im politischen Verkehr. Oft finden sich mehrere Zettel nebeneinander. Sie enthielten oft wichtigere Nachrichten als der Brief selbst. Übrigens war der Gebrauch der Zettel keineswegs ungehörig; man konnte sie z. B. Briefen an hohe Herren beischließen. Im 16. Jahrh. war der Gebrauch, namentlich in den Kanzleien, am stärksten, im 17. nimmt er allmählich ab.

Den Höhepunkt der aufsteigenden Entwickelung bezeichnet Luther, dessen deutsche Briefe wahrhaft klassisch genannt werden dürfen. Aber den fernern erfreulichen Fortschritt hinderten einmal die Wiederbelebung des lateinischen Briefes durch die Humanisten, anderseits das immer stärkere überwuchern des Kanzleistils, von dessen Einfluß man sich kaum befreit hatte. Jenes Moment hatte nicht nur zur Folge, daß die Gelehrten und Geistlichen fortan wieder fast ausschließlich lateinisch schrieben, sondern veranlaßte auch eine Sucht, auch in deutschen Briefen überall lateinische Worte und Floskeln anzubringen: die ersten Anfänge des Fremdwörterunwesens. Dies führte zu einer gesuchten Weitschweifigkeit und künstlichen Umständlichkeit, die allmählich jeden natürlichen Ausdruck erstickte. Der volkstümlich freie und natürliche Stil findet sich noch oft genug in den Privatbriefen des 16. Jahrh., aber er geht doch langsam verloren. Der gesellige Briefverkehr freilich, die Quantität und die Häufigkeit der Briefe nimmt in dieser Zeit sehr zu, wie auch in politischer Beziehung eine ungemeine Schreibthätigteit sich entfaltet.

Mit dem 17. Jahrh. tritt dann eine immer unerfreulichere Entwickelung hervor. Die Sprache der Briefe ist entweder überhaupt nicht deutsch oder arg mit Fremdwörtern durchsetzt; der Ton zeigt nicht mehr Natürlichkeit und Volkstümlichkeit, sondern steife Künstlichkeit und zierliche Phrasenhaftigkeit; es beginnt außerdem das Zeitalter der servilen Komplimente; der Geist ist durch und durch unwahr. Dabei steigert sich der Briefverkehr, den neuern Interessen und Verhältnissen entsprechend, immer mehr. Am meisten fällt zunächst die Wandlung der Sprache, die Ausländerei, auf. Eine große Zahl der deutichen Briefschreiber schrieb überhaupt nicht mehr deutsch, sondern die Gelehrten schrieben lateinisch und die Vornehmen und alles, was so aussehen wollte, französisch, denn Frankreich begann das Ideal zu werden. Die deutschen Briefe aber wurden in jener französisch-lateinisch-deutschen Mischsprache abgefaßt, die schon damals heftige, freilich durchaus vergebliche Opposition erregte. Um 1700 gab es rein deutsche Briefe überhaupt nicht mehr. Beispielsweise waren Adresse, Anrede und Unterschrift auch in deutschen Briefen in der Regel französisch.

Der Stil steht unter dem Zeichen des Schwulstes, jener blumen- und bilderreichen Sprache, die sich keineswegs bloß aus die poetische Litteratur beschränkt. Ungeheures Gewicht wurde sodann in dieser Zeit auf Formalien, Titel und Zeremonien gelegt, ein allgemeines Avancement im Titel fand statt. Man sah es ferner auf eine servile Höflichkeit ab; charakteristisch sind namentlich die Eingänge der Briefe, die von überhöflichen Entschuldigungen strotzen. Überhaupt that man in eigner Erniedrigung und Erhebung des andern das Menschenmögliche; geradezu widerlich sind z. B. die Bittschreiben (vgl. Titelunwesen, Bd. 17, S. 800). Gewisse Ausnahmen sind freilich nicht zu verkennen.

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In der ersten Hälfte des Jahrhunderts bewahren einzelne eine natürliche Schreibart, wenn sie auch der Fremdwörterei verfallen. Als solche bessern Briefschreiber sind unter andern Wallenstein und Karl Ludwig von der Pfalz zu nennen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konnte man sich vor dem allgemeinen Schwulst höchstens durch eine gewisse Mäßigung und Nüchternheit auszeichnen. Dagegen haben die Frauen fast durchweg Natürlichkeit, die freilich oft mit Ungeschicklichkeit verbunden ist, bewahrt. Namentlich ragen die Briefe Lise Lottes, der pfälzischen Fürstentochter und spätern Herzogin von Orleans, außerordentlich hervor, zumal in ihnen zum erstenmal ein außerordentliches Plaudertalent, das in französischen Briefen längst allgemein war, sich zeigt.

Der Briefverkehr nimmt in diesem Jahrhundert außerordentlich zu. Das Briefgeheimnis wird freilich damals durchweg und ohne Scheu verletzt, und man wandte daher besondere Vorsicht bei der Beförderung namentlich von politischen Briefen an (Chiffern). Vielfach vertritt der B. auch die Stelle der Zeitung, so namentlich unpolitischen Verkehr, aber auch in demjenigen der Gelehrten, der Kaufleute und der Privaten. Es war daher in jener Zeit auch besonders wichtig, möglichst große Korrespondenz zu haben. Man drängte sich aber zu solcher Korrespondenz mit einflußreichen Leuten namentlich, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen. So findet man zahlreich die Anwerbungsschreiben, überhöfliche Anerbietungen der Korrespondenz. Sehr beliebt sind auch die Grußbriefe. So werden im allgemeinen damals freundschaftliche Briefe (im 16. Jahrh. nannte man sie Gesellenbrieflein) überhaupt bezeichnet, im speziellen aber gänzlich inhaltlose Schreiben, die nur um der Korrespondenz willen da sind. Die streberhafte, servile Zeit vermehrte auch die Zahl der Gelegenheitsschreiben, der Glückwünsche zu allen möglichen Gelegenheiten, der Kondolenzbriefe, der Dankesschreiben außerordentlich. Sehr bezeichnend sind auch die Rekommandationsbriefe und die Bitten um solche, die Interzessionsschreiben und die Dedikationen. Anderseits ist aber die Steigerung des Briefverkehrs auch auf ein größeres Bedürfnis freundlichen Umganges zurückzuführen, und es entwickeln sich die Anfänge einer Briefliebhaberei, die wesentlich durch den Einfluß Frankreichs, wo die Briefstellerei längst ein Hauptinteresse der Gesellschaft geworden war, befördert wurde. Ein Beispiel fast übergroßer Korrespondenz bietet wieder Lise Lotte von der Pfalz. Wichtig ist auch der sich gegen Ausgang des Jahrhunderts entwickelnde Briefverkehr der Pietisten als Vorläufer der spätern empfindsamen Briefwechselei. Die Briefsteller dieses Jahrhunderts repräsentieren eine äußerst zahlreiche Litteraturgattung. Wesentlich ist, daß sie sich von dem juristisch-notariellen Element im großen und ganzen frei machen und vorzugsweise sprachlich-stilistische Werke, und zwar meist überaus umfangreiche werden. Sie entlehnten ihren Stoff in der Regel französischen und italienischen Werken, z. B. dem Persiko, Loredano und de la Serre. Am meisten wurden wohl der »Teutsche Secretarius« von Harsdörfer und die »Teutsche Secretariatkunst von dem Spähten« (Kaspar Stieler) benutzt. Gegen Ausgang des Jahrhunderts kamen die nach französischem Muster und durchweg in jener deutsch-französischen Mischsprache abgefaßten galanten Briefsteller auf und schössen bald wie Pilze aus der Erde. Über den Arbeiten der Schmierer, wie August Bohse (Talander) und Hunold (Menantos) stehen Christian Weises »Curiöse Ge-