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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Eisenbahnverwaltung (Vorbildung der Beamten)

die Verwaltung des Reiches und ihre Verschmelzung mit Post und Telegraphie als das letzte, der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einsicht des kommenden Jahrhunderts vorbehaltene Ziel betrachtet.

Die vielfachen, teilweise mit großen Verlusten an Menschenleben und Material verknüpften Eisenbahnunfälle des Sommers 1891 haben die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in der Presse und Litteratur wieder einmal in besonders hohem Maße auf das Eisenbahnwesen gelenkt. Mehrfach sind Zweifel darüber laut geworden, ob namentlich auch die deutschen Eisenbahnen in Bezug auf Betriebssicherheit und Leistungsfähigkeit allen Anforderungen entsprechen, welche einerseits im Interesse des ständig wachsenden Verkehrs und der in gleichem Verhältnis steigenden Schwierigkeit des Betriebs, anderseits im Hinblick auf die stetigen Fortschritte der Eisenbahntechnik, besonders in Bezug auf Signal- und Bremswesen, mit Recht gestellt werden können. In dieser Hinsicht vgl. den Art. »Eisenbahnbetriebssicherheit«. Ferner haben jene bedauerlichen Vorkommnisse zu einer erneuten Anregung der seit einer langen Reihe von Jahren in der Tages- wie in der Fachpresse und der wissenschaftlichen Litteratur mehrfach erörterten Frage geführt, ob die Vorbildung der Eisenbahnbeamten eine den steigenden Anforderungen vollkommen entsprechende und zweckmäßige sei. Diese Frage ist, wie früher, so auch jetzt wieder fast durchweg verneint worden. Haben frühere Stimmen sich meistens darauf beschränkt, gegen den Mangel einer fachmäßigen Vorbildung bei den höhern eigentlichen Verwaltungsbeamten zu polemisieren, so fehlt es jetzt nicht an Äußerungen von anscheinend sachkundiger Seite, welche in gleicher Weise die jetzige Art der Vorbildung der höhern Betriebsbeamten und endlich auch der Beamten des niedern Betriebs- und Verwaltungsdienstes als mangelhaft und unzureichend kennzeichnen. Während die Berg-, Forst-, Post- und Telegraphenverwaltungen von vornherein für eine fachmäßige Vorbildung ihrer höhern Beamten Sorge tragen und auch die allgemeine Verwaltung (Regierung) sowie die Zollverwaltung das Ausrücken in die höhern Stellungen von einer praktischen Durchbildung der betreffenden Anwärter abhängig machen, entnimmt die E., bei deren Umfang und Bedeutung eine gründliche theoretische und praktische Vorbildung nach dem Urteil unbefangener Sachverständigen erst recht geboten erscheint, nicht allein in Preußen, sondern auch in andern deutschen Staaten ihre höhern Beamten noch immer aus Berufskreisen, welche dem Eisenbahnwesen mehr oder weniger fern stehen, nämlich einesteils den Juristen, andernteils den Bau- und Maschinentechnikern, welche die für ihr Fach vorgeschriebene Staatsprüfung abgelegt haben. Als hauptsächlichste und schwerwiegendste Einwände hiergegen werden folgende geltend gemacht: Auf dem Gebiete der eigentlichen Verwaltung stehen die wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen den juristischen, auf dem Gebiete der Eisenbahntechnik die Aufgaben des eigentlichen Betriebsdienstes den bautechnischen an Umfang und Bedeutung weit voran. Die gegenwärtige, im wesentlichen rein formal-juristische Vorbildung der höhern Verwaltungsbeamten ist für die wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Aufgaben derselben weder notwendig noch förderlich, weil diese vor allem einen klaren Blick für die praktischen Bedürfnisse des wirtschaftlichen Lebens und rasches Eingehen auf dieselben, ohne Rücksichten formaler Natur, erfordern. Mit den betriebstechnischen Aufgaben verhalte es sich

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insofern ganz ähnlich, als auch hier das praktische Verständnis und Können weit wichtiger sei als das theoretische Wissen, noch dazu auf einem dem eigentlichen Betrieb fernliegenden Gebiete, der Bautechnik. Außerdem wird hervorgehoben, daß die wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Aufgaben einerseits und die betriebstechnischen Aufgaben anderseits schon jetzt ein so großes und schwieriges Gebiet umfassen, daß ihre völlige theoretische und, was besonders zu betonen, auch praktische Beherrschung ein eignes Studium für sich erfordert und nicht nur nebenbei in einer viel zu kurz bemessenen, im Grunde rein theoretischen Ausbildungszeit erworben werden kann, welche bei dem Mangel genügenden praktischen Verständnisses für den Auszubildenden anerkanntermaßen wenig oder gar keinen Wert hat. Es wird deshalb vielfach und gerade in fachmännischen Kreisen für beide Kategorien, Verwaltungsbeamte und technische Beamte, eine gründliche, von vornherein also bereits während der Studienzeit auf die spätern Berufsaufgaben gerichtete Vorbildung empfohlen, an welche sich die praktische Durchbildung in den verschiedenen Zweigen der Verwaltung, bez. des Betriebsdienstes anzuschließen haben würde, wobei noch betont wird, daß die Notwendigkeit einer solchen Vorbildung für die technischen Beamten um so dringlicher sei, als von ihrem theoretischen und praktischen Verständnis die Sicherheit des Betriebs und damit von Menschenleben und bedeutenden Werten in hohem Maße abhängig ist.

Als ein weiteres nicht zu umgebendes Erfordernis für eine den gesteigerten Anforderungen in Bezug auf Leistungsfähigkeit und Sicherheit des Betriebs entsprechende Entwickelung des deutschen Eisenbahnwesens wird, wie oben bereits angedeutet, eine bessere Vorbildung auch der im niedern Betriebs- und Verwaltungsdienst thätigen Beamten angesehen, welchen die Ausführung der von den obern Beamten gegebenen Vorschriften und Anweisungen obliegt und damit unmittelbar die Sicherheit des Betriebs und die ordnungsmäßige Abwickelung des gesamten Verkehrs anvertraut ist. Die größte Schwierigkeit und das bedeutendste Hindernis, welche hier einer als dringend notwendig betrachteten Verbesserung entgegenstehen, werden darin erblickt, daß auf der einen Seite die E. (gleich den meisten andern Zivilverwaltungen) zur Besetzung ihrer Subaltern- und Unterbeamtenstellen vorzugsweise, ja fast ausschließlich mit Militäranwärtern (zivilversorgungsberechtigten Unteroffizieren) bestimmungsmäßig verpflichtet ist, während auf der andern Seite der Bildungsgrad derselben in Bezug auf Begabung, Schulwissen und Erziehung in einem unverkennbaren (auch von der Heeresverwaltung schwer empfundenen) Rückgang begriffen ist, seit mit dem mächtigen Emporblühen von Handel und Industrie diese immer mehr, und bei lohnenden Aussichten naturgemäß die leistungsfähigsten Kräfte an sich ziehen. Ob durch die bisherigen Verbesserungen der pekuniären Lage der Unteroffiziere, namentlich durch Gewährung bestimmter, mit der Zahl der Dienstjahre steigender Prämien hierin eine Besserung eintreten wird, bleibt abzuwarten. Selbst wenn dies der Fall, wird immer noch der Übelstand bestehen bleiben, daß die zivilversorgungsberechtigten Militäranwärter in einem Lebensalter in die Zivilstellung eintreten, in welchem sie meistens nicht mehr die erforderliche geistige Spannkraft und Frische besitzen, um sich in die Aufgaben eines neuen Berufs vollständig hineinzuleben und sich für dieselben von ihren Anfängen an theoretisch