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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (Roman, Drama)

pathische, urwüchsige Gestalt, ein Mann der Wissenschaft, im Kampfe mit den Schicksalsmächten untergeht, während neben ihm engherzige Religiosität zum Siege führt. Im Gegensatze zu den rhetorischen Spielereien mit lüsternem Beigeschmack birgt »La fin d'une âme« eine außerordentliche Gedankenfülle, ein ernstes Streben nach höchster Seelenreinheit, aber in einer Sprache, welche, geflissentlich dunkel und sibyllenhaft, durch die Wahl des weither geholten Ausdrucks manchmal verblüfft. Es gehört Mut, überdies auch ein umfassendes Wissen dazu, um einen solchen »Roman« zu lesen, womit gesagt ist, daß die Gattung im voraus auf Erfolg in den Kreisen verzichten muß, wo man vom Roman angenehme Anregung und Unterhaltung verlangt. Ihre Pfleger schmeicheln sich, Jünger von Villiers de l'Isle Adam zu sein, aber sie sind in einem Irrtum befangen; denn wenn dieser seine Streifzüge nicht auf die bekannte Welt beschränkte, Roman und Novelle mit seinen phantastischen, in geheimnisvollen Tiefen fußenden Gebilden bevölkerte, so blieb er durch die Formvollendung immer Künstler, was den Magiern noch weniger als den meisten Symbolisten nachgerühmt werden kann.

Die Franzosen, welche Klarheit, Frohsinn, spielende Anmut lieben, lassen sich erstaunt über die Bestrebungen und Fortschritte der neuen Schule, ihre wunderlichen Gebräuche und die Zusammenkünfte ihrer Anhänger berichten; aber sie bleiben ihren Schriftstellern treu, die der Lust zum Fabulieren nicht die natürlichen Gefühle und den gesunden Menschenverstand opfern. »Sylviane« und »Germy« von Ferdinand Fabre entzücken die Freunde der schönen Litteratur, die man nicht auf der großen Heerstraße suchen darf; »Le roi de Camargue« und »Le pavé d'Amour« von Jean Aicard sind ebenfalls das Werk eines tief empfindenden Dichters, während H. Rabusson in »Hallali!«, Abel Hermant in »Serge«, Hector Malot in »Anie«, Frau Th. Bentzon in »Constance«, Léon de Tinseau in »Plus fort que la haine«, André Theuriet in »Reine des bois«, Gustave Genevoix in »Amour d'épouse«, Gyp in »Passionette« Zeitbilder entwerfen, die sich im Rahmen der französischen Gesellschaft bewegen und dabei von Streben nach schöner Gestaltung zeugen. Dies läßt sich von einer Unmasse von Romanen nicht sagen, welche nur als Tagesfutter geschrieben sind und in Buchform erst recht die Hast und das handwerksmäßige Schaffen ihrer Verfasser verraten, indes andre wiederum, wie »La femme-enfant« von Catulle Mendès oder »Le lait d'une autre« von Alexandre Hepp, zwar den Stempel des Talents tragen, aber sich wegen ihres ultra-realistischen Inhalts der nähern Besprechung entziehen. Auch der Schauer- und Gerichtsroman findet im Unterstübchen der Blätter angelegentliche Pflege und hat sein ausgedehntes Publikum: »Lazarette« von G. Macé, dem einstigen Chef des Sicherheitsdienstes, der schon ein halbes Dutzend Bände Erinnerungen aus seiner Amtszeit veröffentlicht hat, »La Cormière« von Maurice Talmeyr, »Le magot de l'oncle Cyrille« von Léo Trézenik, vertreten diese Gattung mit Glück.

Wiederum eine neue Schule will Marcel Prévost gründen, die des »romantischen Romans«, und er besitzt in Alexandre Dumas einen Paten, der ihm durch eine geeignete Vorrede zu »Confession d'un amant«, seinem letzten Roman, den Dienst erwies, die Aufmerksamkeit auf den Verfasser zu lenken. Man erfuhr, daß Prévost, welcher der naturalistischen und realistischen Richtung abgeneigt ist, den Stoff zu seinen fünf rasch nacheinander erschienenen Romanen aus eigensten Lebenserinnerungen geschöpft und in jedem derselben ein Stück individuellen Seelenlebens geliefert hatte. Gleich den »Psychologen« ist die Kleinmalerei der Empfindungen und Gefühle sein Hauptaugenmerk, die Handlung bei ihm aber etwas weniger an das tägliche Leben gebunden als bei jenen. Was er für neu hält, ist höchstens die Neubelebung einer ältern bekannten Gattung, und der Umstand, daß er sich selbst in den verschiedenen Phasen seines noch kurzen Daseins schildert, kommt bekanntlich häufig vor. Ähnliches thun die meisten Dichter, bis sie sich zu freiem Schaffen aufschwingen und andern, statt nur immer sich selbst, ins Herz blicken. Pierre Loti, dem die französische Akademie ihre Pforten öffnete, verfährt immer selbstbiographisch, so auch wieder in »Fantôme d'Orient« und in dem »Livre de la pitié et de la mort«, das in verschiedenen Erzählungen von dem Grauen des Todes handelt, und dessen ansprechendstes Kapitel: »Tante Claire nous quitte«, eine Vervollständigung des der Königin Elisabeth von Rumänien gewidmeten »Roman d'un enfant« ist. Rein persönliches Empfinden, eine bis zur Krankhaftigkeit gesteigerte culture du moi findet auch bei Maurice Barrès seinen Ausdruck, dem jungen boulangistischen Abgeordneten aus Nancy, welcher in drei Bänden: »Sous l'œil des barbares«, »L'homme libre« und »Le jardin de Bérénice«, sich selbst nach allen Richtungen, in allen Tiefen, allen Beziehungen zur Außenwelt studiert. Auguste Duviard bringt in seinem ersten Novellenband: »Silhouettes provinciales«, die ein zartes Talent für Miniaturschilderei verraten, Bilder aus seinen Jugendjahren, und dasselbe scheint bei Marcel Schwab in den besten Gaben der Sammlung der Fall zu sein, welche sich nach einer einzelnen Erzählung »Cœur double« nennt. Als vollendeter Novellenschreiber schon bekannt ist der Provençale Paul Arène, der seine Kunst in »Les Ogresses« von neuem zeigt, während der Normanne Jean Lorrain (Duval aus Fécamp) mit »Sonyeuse - Soirs de Paris - Soirs de province« einen scharfen Gegensatz zu den vom Sonnenglanz widerstrahlenden, von Lebensgenuß überfließenden »Menschenfresserinnen« bildet. Seine Geschichten sind melancholisch, manchmal schauerlich, und rechtfertigen teilweise ein Urteil, das den witzigen Pariser Chroniqueur, als den die meisten Jean Lorrain kennen, den Magiern beizählt.

Dramatische Litteratur. Wenn »Thermidor« von Victorien Sardou nicht das hervorragendste Bühnenwerk des Jahres, so war dieses Drama jedenfalls dasjenige, welches am meisten erörtert wurde und wegen seiner Ausschließung von der Comédie française auf Grund einer den Radikalen der Kammer mißliebigen Richtung das größte Aufsehen erregte. Ein Spektakelstück mit ziemlich groben Effekten, dem nur der Name des Verfassers die Pforten des ersten Schauspielhauses erschlossen hatte, ist darum »Thermidor« nicht minder als »Sainte Russie« von Eug. Gugenheim und G. Lefaure, eine Art »Michel Strogoff«, welchem die transkaspische Eisenbahn als Hintergrund dient, »L'impératrice Faustine« von Rzewuski, »Nell HJrn« von Rosny, ein modernes englisches Sittenbild, in das die Heilsarmee hineinragt, »Le Tartufe du XIX. siècle« von Lemière, »Le médecin des folles« von X. de Montépin und Dornay, »Le secret de la reine« von Frau Grand, »Un secret de famille«