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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Naturwissenschaftlicher Unterricht (Physik)
Interesse an der Umgebung, das der Jugend triebartig innewohnt, geben unsre Fächer die geforderte Nahrung, und das Interesse wird durch rechte, fort' schreitende Behandlung auch bei gereiften Schülern noch wachgehalten. Es kann dieses namentlich geschehen durch gelegentliche weitergehende Rücksicht auf das historische Moment. Ein Rückblick z.B. auf die Entwickelung der Weltanschauung seit tzipparchs Zeiten, ein Blick in die stillen Werkstätten des Geistes großer Persönlichkeiten, z. B. eines Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton 2c., ist er nicht geeignet, Interesse, Freude, Rührung zu erwecken? Wird dadurch nicht gelegentlich ein Stück Kultitrgeschichte erledigt, welcher man gegenwärtig mit Recht so sehr das Wort redet? Endlich: führt nicht die durch eigne, sich in das Naturleben immer mehr vertiefende und zu den höchsten Stufen menschlicher Erkenntnis sich erhebende Arbeit zum höchsten Lohn irdischen Strebens überhaupt: zur bewußten. Empfindung derüberwältigenden Erhabenheit, Einfachheit und Schönheit der Gottesnatur?
Diese Andeutungen zeigen, luie die höchsten und edelsten Kräfte im naturwissenschaftlichen Unterricht in ganz eigenartiger Weise sich bethätigen, und wie derselbe kraft dieser Wirkung und kraft der gegenwärtigen Kulturentwickelung mit der Notwendigkeit eines historischen Gesetzes sich allmählich Gleichberechtigung für die allgemeine humanistische Bildung erzwingen muß. Es wird dies um so schneller geschehen, je mehr die Erfolge durch zweckmäßige, den Gesetzen der Didaktik entsprechende Methoden in die Erscheinung treten. Die Unterrichtsmethode der verschiedenen Gebiete hat sich langsam und ungleich entwickelt: Langsam, weil der Unterricht als bedeutungslos angesehen und in seinen Eigentümlichkeiten nicht erkannt war, von unzulänglichen Lehrkräften erteilt wurde, auch die verschiedenen Disziplinen selbst noch jung und zudem im Unterricht zusammengeworfen waren; ungleich, da die Disziplinen ungleich entwickelt waren, auch in ihrem Werte ungleich geschätzt wurden. In der Volksschule fanden sie als »gemeinnützige Wissenschaften«, im Gymnasium die Naturgeschichte höchstens auf der Unterstufe, die Physik anhangsweise an die Mathematik Berücksichtigung; die Nützlichkeit gab den Ausschlag.
Die Namen Comenius, Basedow, Salzmann, Rochow, Spillecke, Lüben u. a. bezeichnen einige Etappen der Einbeziehung und Behandlung unsrer Fächer in älterer Zeit. In der Neuzeit war eigentlich nur die Physik, und zwar diese nur nach der Seite von Beobachtung und Experiment nach und nach zur Geltung gekommen. Die Chemie, sofern sie schulfähig war, sah es ebenfalls nur darauf ab, nach Experimenten in kurzer Zeit viel Stoff zu bewältigen, von induktiver Logik im Unterricht ist erst in den letzten Dezennien die Rede. Die Naturgeschichte endlich verblieb bis in die 70er Jahre meist ein bloßer Verbalismus, bloße Systematik, und zwar (trotz Lübens Bemühungen) rein deduktiver Art. Gegenwärtig, ^acht M) eine kräftige Entwickelung der Methoden bemerkbar, wobei namentlich die in Real-schulen vorgebildeten Akademiker der höhern Schulen mitwirken. Zeitschriften, Vereinigungen, praktische Kurse für Volksschullehrer sowie an Universitäten, Ferienkurse für im Amte stehende Akademiker sorgen für weitergehende Befähigung der naturwissenschaftlichen Lehrer, ja selbst die Männer der Wissenschaft nehmen an Vervollkommnung der Methode, der Lehrbücher und Lehrmittel regen Anteil, und alle diese Einrichtungen geben die sichert Garantie für größere Nutzbarmachung des Unterrichts in der Zukunft.
I s Pl, ysik.i Die Physik hat ihrer Bedeutung und Ent! Wickelung wegen von jeher eine etwas bevorzugtere Stelle im Lehrplan eingenommen. Entgegen der Unterrichtsaufgabe, die iin wesentlichen darin besteht, den Thatsachen, d. h. den Wandlungen der mechanischen Kräfte, den Erscheinungen und ihrem ursachlichen Zusammenhang zu folgen, und in gänzlicher Verkennung ihrer formalen Unterrichtszwecke hat sie am Gymnasium bis in die Neuzeit eine vorherrschend mathematische und auch in der Volksschule eine Art theoretische Behandlung erfahren. Beobachtung und Experiment erhalten erst in der neuesten Zeit ausgiebige, wenn auch nicht immer zweckmäßige und geschickte Verwendung.
Es steht außer Frage, daß, wenn der Unterricht bezweckt, an passendem Stoff in die Regeln, Methoden und Hilfsmittel der induktiven Logik einzuführen und zur Anwendung derselben zu befähigen, daß dann Beobachtung und Experiment die Grundlage des Unterrichts bilden müssen. Die Beobachtung führt zur Analyse der wesentlichen Merkmale, sie lehrt die Quellen des Irrtums in mangelhafter Aufmerksamkeit, Verwechselung von Beobachtetem und Gefolgertem, in vorgefaßten Meinungen und voreiligen Analogieschlüssen (die Mängel fast jedweder gewöhnlichen Wahrnehmung!) kennen und meiden.
Wo die Beobachtung zur Sonderung der Teile und Erkennung des Zusainmenhanges nicht ausreicht, und das ist in der Physik meist der Fall, da setzt das Experiment ein, indem es die Einzelthatsachen vermehrt, eine mannigfache, weitergehende Analyse aller Umstände in beliebiger Wiederholung gestattet, ja ermöglicht (die eigentliche Bedeutung!), daß in gegebene Umstände eine völlig bestimmte Veränderung eingeführt und ihre Wirksamkeit verfolgt werde. Ob es nach Maßgabe der vorhandenen, übrigens vorläufig und voraus bekannten Umstände richtig ausgewählt, geschickt ausgeführt und in seinen unmittelbaren Ergebnissen auch richtig interpretiert werde, darin offenbart sich der Scharfsinn des Lehrers. Mindestens ist unerläßliche Forderung, daß derselbe ein umsichtiger und geschickter Experimentator sei. Auch die Stelle des Experiments im Unterricht ist von Wichtigkeit. Die Induktion ist Gedankenarbeit, sie stößt anf Fragen, auf Folgerungen und neue Fragen, und zu ihrer Beantwortung und Sicherstellung soll das Experiment dienen. Daher wird es im Verlauf der Betrachtung bei bestimmten Fragen, an bestimmter Stelle, in bestimmter Art einsetzen müssen, an: häufigsten am Ende einer Betrachtung. Auch wird es den Schüler sehr fördern, wenn er selbst auf das Experiment kommt und womöglich für einzelne Aufgaben dasselbe selbst ausführt. Wie hieraus hervorgeht, ist es nicht zweckmäßig, wenn (wie gegenwärtig meist üblich) das Experiment nur zur Illustration des Vortrages benutzt und an die Spitze gestellt, oder wenn es nur zur Sichtbarmachung neuer Thatsachen und Zur Ableitung von Ergebnissen benutzt wird. Auch wird ersichtlich, daß cs nicht auf möglichst viele, sondern nur auf so viele möglichst durchsichtige Experimente ankomme, als zur Beantwortung der vorliegenden Frage unbedingt nötig sind. Gegen alle diese Forderungen wird öfter gefehlt, am wenigsten jedenfalls von pädagogisch gebildeten Fachlehrern, welche in der That schon deswegen an höhern Schulen nicht zu entbehren sind. Wie verkehrt es ist, mathematische Physik zu treiben, wo als Grundlage der Logik das Experiment gefordert ist, wird man hiernach begreifen. Die Physikstunde gehört eben dem Physiker und nicht dem Mathematiker,