Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Belgien (Geschichte seit 1865)'
Wahlreformvorschläge ablehnte, fanden in Brüssel und mehrern Industrieorten Demonstrationen und Straßenunruhen statt, die mit Gewalt unterdrückt werden
mußten.
Unter dem Eindruck dieser Bewegung kam nun alsbald eine Einigung auf einen Antrag Nyssens zu stande, der das allgemeine, erst mit dem vollendeten 25.
Lebensjahr beginnende Wahlrecht mit dem Mehrstimmensystem verband. (S. oben,
Verfassung und Verwaltung, S. 671 b.) Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit 16. April in
der Kammer, 27. April im Senat angenommen. Dadurch wurde die Zahl der Wähler von etwa 130000 auf über 1200000 erhöht. Es wurde danach noch Wahlzwang
beschlossen, ferner die Möglichkeit des Erwerbs von Kolonien (Kongostaat) vorgesehen, endlich dem König das Recht beigelegt, im Fall mangelnder männlicher
Descendenz seinen Nachfolger unter Zustimmung der Kammern zu ernennen. Über das System der Senatorwahlen einigte man sich nach langen Streitigkeiten
erst Anfang September. Der Census derselben ward etwas herabgesetzt. Am 6. Sept. unterzeichnete der König diese neuen Verfassungsbestimmungen. Nach
kurzer Vertagung traten die Kammern 17. Okt. wieder zusammen, und die Regierung legte nun das neue Wahlgesetz vor. Die Beratung zog sich wieder sehr in die
Länge. Einen Zankapfel bildete namentlich die von der Regierung befürwortete Vertretung auch der Minderheiten in beiden Kammern sowohl wie in den
Provinzial- und Gemeinderäten, was von einem Teil der Regierungspartei, der extrem-klerikalen Gruppe unter Führung Woestes entschieden abgelehnt wurde.
Dieser Widerstand veranlaßte den Ministerpräsidenten Beernaert, März 1894 seine Entlassung zu nehmen, worauf der bisherige Minister des Innern, De Burlet,
26. März Kabinettschef wurde. Er zog die Regierungsvorlage über die proportionelle Vertretung alsbald zurück, und nun kam endlich das Wahlgesetz in der
Kammer zu stande; mit der Annahme desselben im Senat 27. Juni war die Verfassungsrevision abgeschlossen. Die Wahlen nach den neuen gesetzlichen
Bestimmungen fanden 14. Okt. statt und zertrümmerten fast die nun wieder vereinigte liberale Partei, während die Socialisten in unerwarteter Stärke ihren
Einzug in die Repräsentantenkammer hielten und auch die Klerikalen ihre Mandate vermehrten. Nach dem Ergebnis der Stichwahlen waren gewählt 104
Klerikale, 16 Liberale und 32 Socialisten und Radikale. Auch im Senat erhöhte sich die klerikale Majorität und ebenso gewannen die Klerikalen sowohl wie die
Socialisten bei den Provinzialratswahlen im November. Anfang 1895 beherrschten die Fragen der Annexion des Kongostaates und die Regelung der
Gemeinderatswahlen die Politik.
Litteratur. Kuranda, B. seit seiner Revolution (Lpz. 1846);
Exposé de la situation du royaume, publié par le ministre de l'intérieur («Période décennale de 1841 à 1850», Brüss. 1852;
«Période de 1851 à 1860», ebd. 1864; «Période de 1861 à 1875», ebd. 1878 fg.);
Juste, Histoire du congrès national de Belgique (2 Bde., ebd. 1850; neue Bearbeitung, ebd. 1880; deutsch ebd. 1850);
Namèche, Cours d'histoire nationale, Bd. 1–28 (Löwen 1853–91, noch unvollendet);
Documents statistiques, recueillis par le ministère de l'intérieur, Bd. 1–14 (Brüss. 1857–70); Thonissen,
La Belgique sous le régne de Leopold I. (2. Aufl., 3 Bde., Löwen 1862); ↔ Juste,
Les fondateurs de la monarchie belge, Bd. 1–27 (Brüss. 1866–82); ders.,
Histoire de Belgique (4. Aufl., 3 Bde., ebd. 1868); ders.,
La révolution belge de 1830 d'après des documents inédits (2 Bde., edd. 1872); Oetker, Belg. Studien (Stuttg. 1876);
Nothomb, Essai historique et politique sur la révolution belge (4. Aufl., 2 Bde., Brüss. 1876; deutsch von Michaelis, Stuttg.
1836); Hymans, Histoire parlementaire de la Belgique 1831–80 (5 Bde., Brüss. 1878–80); Gatti de Gamond,
Histoire de Belgique (3. Aufl., ebd. 1880); Vercamer,
Histoire du peuple belge et de ses institutions (ebd. 1880); Moke, Histoire de Belgique
(7. Aufl., fortgesetzt von E. Hubert, ebd. 1881); E. Poullet, Histoire politique interne de la Belgique (2. Aufl., Löwen 1882);
ders., B. unter der Statthalterschaft Erzherzog Karls 1793, 1794 (Tl. 1–3, Wien 1893–94); Pirenne,
Bibliographie de l'histoire de Belgique (Gent 1893); Balau,
La Belgique sous l'empire et la défaite de Waterloo, 1804–15 (2 Bde., Par. 1894).
Belgiojōso (spr. beldscho-), Stadt in der ital. Provinz und dem Kreis Pavia, in fruchtbarer
Ebene zwischen dem Po und der untern Olona, an der Linie Pavia-Cremona des Adriatischen Netzes, hat (1881) 3796, als Gemeinde 4557 E., einen von Herzog
Galeazzo II. von Mailand gegen 1460 errichteten Aquädukt und einen von prächtigen Gärten umgebenen eleganten Palast, der, im 15. Jahrh. von den Grafen
Barbiano d'Este erbaut, die B. als Fürstentum zu Lehen erhalten hatten, jetzt der fürstl. Familie B. von Mailand gehört. Hier wurde Franz I. 1525 gefangen
gehalten.
Belgiojōso (spr. beldscho-), Cristina, Fürstin von ital. Schriftstellerin
und Patriotin, geb. 28. Juni 1808, aus dem Geschlecht Trivulzio (s. d.), wurde 1824 mit Emilio Barbioni B. vermählt, trennte sich aber bald
von ihrem Gatten, lebte dann zuerst in Mailand, wo sie den von Österreich verfolgten Patrioten Schutz und Rückhalt gewährte, darauf in Paris, von wo aus sie
durch die Zeitschriften «Gazetta italiana» und «Ausonia» für Italiens Erhebung zu
wirken suchte. 1842–43 gab sie (anonym) den «Essai sur la formation du dogme catholique» heraus. Nach Pius' IX.
Regierungsantritt errichtete sie auf eigene Kosten ein Freikorps; nach der Einnahme Roms durch die Franzosen 1849 ging sie nach dem Orient, bis ihr 1855 die
Rückkehr in die Heimat gestattet wurde. Die Früchte dieses Aufenthalts sind: «Souvenirs d'exil» (zuerst im
«National» veröffentlicht), «Emina. Récits turco-asiatiques» (2 Bde., Lpz. 1856),
«Asie-Mineure et Syrie» (Par. 1856). Seit 1858 verwitwet, trat sie 1859 nochmals im polit. Leben Italiens hervor, indem sie
für den Anschluß an die Savoyer wirkte, in welchem Geiste sie auch die Zeitungen «Italia» und
«Perseveranza» gründete. Seit 1860 lebte sie in Mailand. Sie starb 5. Juli 1871.
Belgische Eisenbahnen. In Belgien, welches unter den Ländern Europas zuerst Staatsbahnen baute und betrieb, betrug die Länge des
Eisenbahnnetzes 1. Jan. 1892: 4719 km, einschließlich der Strecken der Nationalen Nebenbahngesellschaft jedoch 5796 km, so daß auf 100 qkm
19,6 und auf 10000 E. 9,4 km entfielen. Belgien steht in Bezug auf das Verhältnis der
Eisenbahnen zum Flächeninhalt allen Ländern der Erde voran. Die erste Eisenbahn war die vom Staate auf Grund des Gesetzes vom 1. Mai 1834 erbaute und
betriebene
Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 688.